Berlin (dapd). "Kein Befreiungsschlag", "Zum Fremdschämen", "Opfer seiner selbst" - die Urteile in der deutschen Presse über das Fernsehinterview des Bundespräsidenten Christian Wulff sind durchweg negativ. Die "Bild"-Zeitung, die den neuen Wirbel mit der Veröffentlichung des angeblichen Drohanrufs Wulffs ausgelöst hat, meint: "Chance vertan".

Der "Bild"-Kommentator Ulrich Becker urteilt, mit Wulffs "zerknirschter Rechtfertigung" sei es nicht getan, sondern wahrhaftige Aufklärung sei gefragt. "Doch die ist Christian Wulff sowohl zu seinem Anruf bei 'Bild' als auch zu seinen umstrittenen Hauskrediten schuldig geblieben. Damit hat Wulff eine weitere, womöglich die letzte Chance vertan, seine Amtszeit mit Würde fortzusetzen. ... Und die Affäre ist noch nicht zu Ende."

Mit scharfen Worten kritisiert Christoph Twickel bei "spiegel.de" den Bundespräsidenten: "In dem Mea-culpa-Interview offenbart sich ein politischer Karrierist, der sich aufs verständnisheischende Beteuern verlegt, um sich im Amt zu halten." Das sei gruselig und zum Fremdschämen. "Sich dann wie ein Schuljunge ins Hauptstadtstudio der ARD zu setzen und zu erklären, dass er in fünf Jahren ein guter Präsident gewesen sein will und sein Amtsverständnis viel intakter sei als sein zweifelhaftes Krisenmanagement es vermuten lässt, ist bestenfalls kindisch."

Heribert Prantl konstatiert in der "Süddeutschen Zeitung", dass es im Internet "eine besondere Lust daran gibt, aus Dreckkübeln, die in ausländischen Servern gefüllt werden, ungestraft auf Hass-Subjekte zu schütten". Er fügt hinzu: "Wulff war und ist da eines der Opfer. Aber er ist vor allem ein Opfer seiner selbst. Er selbst hat kräftig dazu beigetragen, seine Fehler aufzublasen, indem er sie zu vertuschen suchte."

Günther Nonnenmacher, einer der Herausgeber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", ist der Meinung: "Die Kompetenzen des Bundespräsidenten sind schmal (was zur moralischen Überhöhung des Amtes beigetragen hat). Deshalb kann die Republik auch einen Präsidenten ertragen, der nun unter Bewährungsbeobachtung steht."

Die Heidelberger "Rhein-Neckar-Zeitung" schreibt: "Sarkastisch formuliert möchte man zusammenfassen: Bei Banken kennt er sich offenbar besser aus, als vermutet. Von der Pressefreiheit scheint er dagegen keine Ahnung zu haben. Der Rest ist Fassungslosigkeit." Nicht souverän findet das Blatt, "dass er zugleich ARD und ZDF zum Staatsfunk adelt und die Medien, die seine Affäre ans Licht der Öffentlichkeit zerrten, nämlich die Presse, ausschloss".

Die "Stuttgarter Zeitung" meint: "Die zur Schau gestellte Reue war homöopathisch dosiert. Zudem klangen viele seiner trotzigen Verteidigungsversuche schlichtweg selbstgerecht." Außerdem kritisiert das Blatt: "In dieser spektakulären Viertelstunde waren längst nicht alle Fragen unterzubringen, die Wulff noch zu beantworten hätte.

Die "Kieler Nachrichten" ziehen das Fazit: "Es war ein trauriger Auftritt: ein schwer angeschlagenes Staatsoberhaupt, das zum zweiten Mal binnen kurzer Zeit reumütig vor die Journalisten treten muss. ... Nein, so will man keinen ersten Mann im Staate leiden sehen."

"Er lernt es nicht", schimpft die "Thüringer Allgemeine" in Erfurt. "Er ging bloß so weit, wie er unbedingt musste." Die "Nürnberger Nachrichten" kritisieren: "Wenn es dem angeschlagenen Staatsoberhaupt wirklich daran gelegen wäre, Licht in die Sache zu bringen, hätte Wulff vor die Bundespressekonferenz treten und sich den vielen noch offenen Fragen stellen müssen."

Die "Lübecker Nachrichten" prophezeien: "Die Reihen hinter Wulff werden sich wieder schließen, jedenfalls die der Koalition." Die "Financial Times Deutschland" urteilt: "Der Bundespräsident wählte als Verteidigung die Guttenberg-Variante: die Verbrüderung mit dem Volk. Eine böse Hauptstadtpresse macht demnach Jagd auf den, der im Volk beliebt ist. Das Volk aber hält weiter zu seinem Liebling. Das darf man Wulff nicht durchgehen lassen."

"Schal, halbherzig, wenig staatsmännisch" findet die "Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung", Essen, die Äußerungen Wulffs und wirft ihm "Stillosigkeit" vor: "Warum stellt sich der Bundespräsident nicht der Bundespressekonferenz, sondern gewährt dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine exklusive Audienz?"

Die "Neue Osnabrücker Zeitung" meint: "Dem Niedersachsen in Berlin verschafft der fast beispiellose Auftritt ein wenig Luft, doch macht er sich und sein Amt damit auch gewöhnlich und klein, vielleicht zu klein." Der "Trierische Volksfreund" stellt fest, der Amtsinhaber werde "als Schnorrer, Heuchler und Täuscher angesehen" und sei "in den Internetforen zur Schießbudenfigur geschrumpft".

Die "Stuttgarter Nachrichten" relativieren die Vorwürfe: "Er hat einen Fehler gemacht; aber sein Fall unterscheidet sich fundamental von echten Skandalen, wie sie ein Gerhard Glogowski oder ein Karl-Theodor zu Guttenberg ausgelöst haben."

"Zum Fremdschämen" findet die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" (Essen) Wulff. "Er ist, aus eigenem Verschulden, nicht einmal ein halber Spitzenstaatsbeamter. Das hat sich auch durch seinen TV-Auftritt nicht geändert." Hajo Schumacher erkennt in der "Berliner Morgenpost" an, Wulff habe sich "zumindest aber Luft verschafft. Ein Feuerwerk der Fehler versuchte er in eine Opfer- und Heldenarie umzudeuten." Die Zeitung "Die Welt" sieht nach vorn: "Die Weisheit, den richtigen Maßstab für Besonnenheit unter schwerem Druck zu finden, sei Christian Wulff zu wünschen. Er hat nur noch eine einzige Chance."

dapd