Kiew (dapd). Im Morgengrauen ist die frühere ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko am Freitag aus der Untersuchungshaft in eine Strafkolonie in der östlichen Stadt Charkiw gebracht worden. Noch am Vorabend hatte die Gefängnisleitung in Kiew beteuert, man habe keine Pläne zur Verlegung der Oppositionspolitikerin. Der Justizminister Alexander Lawrinowitsch hatte erklärt, es gäbe noch weitere Strafverfahren gegen Timoschenko, daher sei nicht bekannt, wann sie aus Kiew weggebracht werde.
Einen Tag später war es dann aber doch bereits soweit. "Bevor der Morgen anbrach, haben die Wachen sie weggeschafft, das hat mit Justiz und Gerechtigkeit nichts zu tun, sondern ist ein Werk von Monstern", sagte Timoschenkos Anwalt Sergej Vlasenko sichtlich aufgebracht am Vormittag in Kiew.
Die Partei Timoschenkos und politische Beobachter gehen davon aus, dass die Entscheidung von höchster politischer Stelle angeordnet wurde. Präsidenten Viktor Janukowitsch und Timoschenko seien Todfeinde, mit der Verlegung zu Neujahr wolle der Staatschef "ein unmissverständliches Zeichen gegen sie und gegen alle anderen Oppositionskräfte setzen", sagte ein hochrangiger EU-Diplomat in der ukrainischen Hauptstadt.
Während regierungstreue Medien wie der Fernsehsender Inter über einen "VIP-Gefangenentransport und zwölf Luxuskoffern", mit denen Timoschenko in das Frauengefängnis Katschaniwska umziehe, berichteten, schlugen ihre Verteidiger andere Töne an. Demnach sei Timoschenko mit einem Krankenwagen nach Charkiw gebracht worden, zwei Gefängniswärter und mehrere Sicherheitskräfte hätten die 51-Jährige um 06.00 Uhr in der Früh aus ihrer Zelle geholt. Da sie alleine nicht laufen könne, sei sie gestützt worden. Auf einer Bahre liegend wurde die Oppositionsführerin den Angaben zufolge die 500 Kilometer nach Charkiw gebracht - die Fahrt dauert auf den maroden Verkehrswegen der früheren Sowjetrepublik in der Regel bis zu acht Stunden.
Die Vaterlandspartei Timoschenkos rief für den Nachmittag zu einer Kundgebung vor der Strafkolonie Nr. 54 in Charkiw auf. Ob die Behörden die Demonstration genehmigen würden, war zunächst noch offen. Ukrainischen Medien zufolge versammelten sich dennoch zahlreiche Journalisten sowie Mitglieder und Unterstützer der Vaterlandspartei vor der Haftanstalt.
Timoschenko, das Gesicht der pro-westlichen Orangenen Revolution aus dem Winter 2004/2005, wird den Jahreswechsel nun voraussichtlich in einem denkbar unwirtlichen Ort verleben müssen. Die Strafkolonie 54 ist für harte Arbeit und einen rauen Umgangston berüchtigt. Etwa 900 Frauen, alles Langzeithäftlinge, darunter auch Mörderinnen, leben zu acht in winzigen Zellen. Zwar ist die Anstalt vor kurzem renoviert worden, aber die Frauen sind weiterhin zu Näharbeiten und zum Tragen von Anstaltskleidung gezwungen. Wer sich dem strengen Regiment widersetzt, wird in kerkerartige, fensterlose Strafzellen verlegt.
Nach Angaben von Timoschenkos Anwalt Vlasenko, ihrer Tochter Jewgenija und der Menschenrechtsbeauftragten der ukrainischen Regierung, Nina Karpatschowa, leidet die Oppositionspolitikerin unter starken Rückenschmerzen. Sie kann demnach seit Anfang November nicht selbstständig laufen und hat stark an Gewicht verloren. "Wie sie den Gefängnisalltag in der Kolonie durchstehen soll, ist mir schleierhaft", sagte eine Menschenrechtsaktivistin in Kiew, die ihren Namen nicht in den Medien lesen will.
Der Zeitpunkt der Verlegung ist möglicherweise kein Zufall. Das Neujahrsfest und die orthodoxe Weihnacht am 6. Januar markieren zwei der höchsten Feiertage in der Ukraine. "Meine Mutter traf die Verlegung völlig unverhofft, bis gestern Abend hat man ihr gesagt, sie bleibe in Kiew", sagte die Timoschenko-Tochter Jewgenija am Freitag der Nachrichtenagentur dapd. Die Politikern habe es geliebt, im Kreis der Familie das neue Jahr zu begrüßen und dann in die Kirche zu gehen, um Kraft zu tanken. Dieses Jahr werde sie in einer fremden, unwirtlichen Umgebung alleine sein, sagte Jewgenija Timoschenko weiter. Besuche in Charkiw seien erst für die Zeit ab dem 3. Januar erlaubt worden.
Gegen Timoschenko war im Sommer ein international kritisierter Prozess wegen Amtsmissbrauch eröffnet worden. Am 11. Oktober wurde sie zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Seit Anfang August saß die Oppositionspolitikerin in einem Kiewer Untersuchungsgefängnis. Trotz massenweiser Anfragen aus dem In- und Ausland durften sie nur ihre Anwälte, die Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine sowie EU-Kommissar Stefan Füle sehen.
Die Besucher hatten immer wieder die Haftbedingungen kritisiert. Das Lukajanka Gefängnis gilt als chronisch überbelegt und erfüllt nicht die internationalen Standards für Haftanstalten, zu deren Einhaltung sich die Ukraine eigentlich verpflichtet hat.
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