Hamburg (dapd). Richter Grote wusste um die große Bedeutung seines Urteils für den Sport, der ihm persönlich am Herzen liegt: "Ich kenne die Emotionen beim Fußball." In diesem Fall sah er aber eine "Frustbewältigung auf Kosten anderer". Das Amtsgericht Hamburg sprach den Angeklagten Stephan H. am Mittwoch der vorsätzlichen gefährlichen Körperverletzung schuldig.
Die Tat war der Wurf eines Plastikbechers; scheinbar eine Lappalie im Vergleich mit der wöchentlichen Randale im Profi-Fußball. Doch angesichts der Folgen wird künftig mancher überlegen, was er in einem aufgeheizten Fußballstadion tut.
Verhandelt wurde ein extremes Beispiel von kleiner Ursache und großer Wirkung. Beim Bundesligaspiel zwischen dem FC St. Pauli und Schalke 04 am 1. April flog ein etwa Plastikbecher halb voll mit Bier in hohem Bogen von der Haupttribüne in den Nacken von Schiedsrichter-Assistent Thorsten Schiffner, der in die Knie ging und sich außerstande sah, das Spiel über die letzten Minuten zu begleiten. Die Partie wurde abgebrochen, St. Pauli musste zur Strafe später ein Heimspiel nach Lübeck verlegen und Einbußen bei den Einnahmen hinnehmen.
H. erhält nur eine Verwarnung und eine Strafe in Höhe von 12.000 Euro, die zur Bewährung ausgesetzt sind, zunächst muss er 1.500 Euro Schmerzensgeld an Schiffner zahlen und denselben Betrag an die Sepp-Herberger-Stiftung des DFB. Grund für das milde Strafmaß ist der "zivilrechtliche Rattenschwanz" (Grote), der auf den Werfer zukommt: Der FC St. Pauli wird 400.000 Euro Schadensersatz von ihm verlangen.
"Es war ein heftiger Schlag ins Genick", sagte der getroffene Schiffner als Zeuge, "mein erster Instinkt war: Ich muss hier weg." Er hatte Angst, bestätigte er auf Nachfrage, aber inzwischen mache ihm der Job wieder Spaß. Doch es dauerte mehr als zwei Wochen, bis die Schmerzen von Schädelprellung und Wirbelsäulen-Verletzung verschwunden waren.
Der Wurf, auf TV-Bildern mit Ausnahme des Verursachers gut zu erkennen, war eine physikalische Seltenheit: Ohne Rotation und Flüssigkeitsverlust segelte das Objekt herunter und streckte Schiffner nieder. Niemand anderer als Becherwerfer Stephan H., davon ist das Gericht überzeugt, trat im selben Moment die Flucht an und wurde am Ausgang von Ordnern überwältigt.
Zwei Zeugen meldeten sich in den nächsten Tagen beim Verein, die in der Nähe des Werfers in einem Treppenaufgang gestanden hatten. Aber was genau hatten sie beobachtet, wer stand wo und hat Abwurf und Treffpunkt wie genau gesehen? Hier setzte die Verteidigung an, fand Unklarheiten und Widersprüche in den Aussagen; jedoch nichts, was Richter Grote davon überzeugt hätte, es nicht mit dem Täter zu tun zu haben.
Die Motive der Zeugen standen schon gar nicht infrage: W., seit 50 Jahren Millerntor-Besucher, findet, so etwas habe "beim Sport nichts zu suchen". Rentner P., mit seiner Frau aus Lübeck angereist, sagte ernst, ein Becherwurf "gehört sich nicht auf dem Sportplatz." Beide waren vielleicht nicht perfekte Zeugen eines Tathergangs, aber gute Anwälte des sportlichen Anstands.
Bleibt Stephan H., ein 44 Jahre alter Projektmanager, der mit Frau und zwölfjähriger Tochter in einer Doppelhaus-Hälfte in Seevetal südlich von Hamburg lebt und der Verhandlung angestrengt-unbewegt folgte. Kein Hooligan, wie Richter Grote betonte; tatsächlich fand die Polizei in seiner Tasche das Sponsoren-Ticket für einen "Business Seat", am Handgelenk trug er ein VIP-Bändchen. Und H. ist keiner, der Leuchtspurmunition in einen gegnerischen Fanblock schießen würde, wie es St. Pauli-Fans gerade in Rostock erlebt haben. Aber ein Mann, der aus fehlgesteuerter Frustbewältigung den "Fehler seines Lebens" beging.
Ein Unterhandwurf war es wohl wie beim Boule oder Boccia, mit ganz unwahrscheinlichen Folgen. Stephan H. will das Urteil nicht akzeptieren. "Wir halten es für falsch und werden Rechtsmittel einlegen", sagte sein Anwalt Manuel Fumagali. Er hatte einen Freispruch gefordert, da nicht endgültig nachgewiesen worden sei, wer den Becher tatsächlich geworfen habe.
dapd