Berlin (dapd). Regisseur Roland Emmerich, der erfolgreichste Deutsche in Hollywood, ist dafür bekannt, großformatige Themen beherzt anzupacken. Von einer Alien-Invasion in "Independence Day" über die Eiszeit in "The Day After Tomorrow" bis zum Desaster-Film "2012", in dem mal kurz die Welt zerstört wird, geht es in seinen Blockbustern immer ums Ganze. Mit seinem historischen Thriller "Anonymus" und "nur" 30 Millionen Dollar Budget wendet er sich von den lauten Katastrophen der hehren Kunst zu - und bleibt sich doch treu.

Mit dem spannenden Kostümdrama aus der elisabethanischen Ära will er quasi ein Kulturdenkmal in die Luft jagen. Es geht um die Frage aller Fragen der literarischen Welt: Ist Shakespeare, Sohn eines Handschuhmachers aus Stratford-upon-Avon, tatsächlich der Urheber von "Hamlet", "Othello" und anderer grandioser Werke, die den Kanon der Weltliteratur anführen?

Seit ungefähr 100 Jahren wird dies von großen Geistern wie Mark Twain, Sigmund Freud, Charles Dickens und Nietzsche bezweifelt. Die sogenannten Anti-Stratforder haben bis zu 70 Gegenkandidaten vorgeschlagen; die bekanntesten sind Francis Bacon, Christopher Marlowe und Edward de Vere, 17. Earl von Oxford.

Shakespeare als trotteliger Schmierenkomödiant

Emmerich schlägt sich auf die Seite der "Oxfordianer" und kürt den Hochadeligen Edward de Vere zum wahren Dichterfürsten. Der freigeistige Edelmann und gelehrte Lord-Kämmerer kann seine politisch brisanten Stücke nicht unter seinem Namen aufführen. Deshalb engagiert er den Schauspieler William Shakespeare als Strohmann.

Die filmische Verschwörungstheorie wird mit höfischen Intrigen und Inzest in den höchsten Kreisen zu einer fabelhaften Räuberpistole mit ordentlich Sex & Crime ausgebaut. Insbesondere die wüsten, geradezu "shakespearschen" Geheimnisse der Queen dürften selbst die Kummer über das Königshaus gewohnten britischen Zuschauer schockieren.

Bestürzend ist auch das Auftreten von Shakespeare als erpresserischer und versoffener Schmierenkomödiant. Kein Wunder, dass der Kostümthriller schon im Vorfeld unter Literaturexperten wie -Laien wütende Diskussionen hervorrief: In Stratford selbst hat man aus Protest ein Shakespeare-Denkmal verhüllt. Auch Prinz Charles hat sich als Shakespeare-Unterstützer eingeschaltet. Der gemeine Zuschauer allerdings tut sich in den Film anfangs schwer, angesichts der vielen Rückblenden und der Fülle zeitgenössischer Figuren den Überblick zu wahren. Dennoch wird dabei deutlich, dass es für die Autorschaft Shakespeares kaum handfeste Beweise gibt.

Opulenter Literaturthriller mit Sex & Crime

Selbst der renommierte Shakespeare-Darsteller Sir Derek Jacobi, der den Filmprolog zu "Anonymus" spricht, hat schon vor Jahren in einem Manifest mit anderen Star-Mimen Zweifel an der Identität des Dichters angemeldet. Neben Edward-de-Vere-Darsteller Rhys Ifans verkörpert die aus einer britischen Schauspieler-Dynastie stammende Vanessa Redgrave zusammen mit Tochter Joely Richardson Queen Elizabeth. Shakespeare selbst wird von Rafe Spall (zurzeit auch in "Zwei an einem Tag" zu sehen) dargestellt. Emmerich hat sich mit seiner rein englischen Besetzung einen lang gehegten Wunsch erfüllt.

Gedreht wurde in den Potsdamer Babelsberg-Studios, und damit arbeitete das schwäbische "Spielbergle" nach fast 20 Jahren Hollywood wieder in der alten Heimat. Die opulente Ausstattung ist ein Augenschmaus. Besondere Sorgfalt legte Emmerich auf die per Computeranimation generierte, authentische Darstellung Londons im späten 16. Jahrhundert und auf die Kulisse des legendären Globe-Theaters, die in Handarbeit entstand. Mit der historischen Wahrheit jedoch nimmt es der begeisterte Geschichtenerzähler Emmerich in seinem unterhaltsamen Literaturkrimi nicht so genau. Doch eins ist sicher: Es ist etwas faul mit dem Mann aus Stratford.

("Anonymus", Kostümdrama, USA 2011, 129 Minuten, FSK: 12, Verleih: Sony, Regie: Roland Emmerich, Darsteller: Rhys Ifans, Vanessa Redgrave, Joely Richardson, David Thewlis, Rafe Spall, Edward Hogg u.a.)

Kinostart: 10. November 2011

dapd