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Die Zahl der Selbstmord-Versuche von türkischen Mädchen ist etwa fünfmal höher als bei jungen deutschen Frauen. Beinahe doppelt so oft nehmen sie sich das Leben. Viele verzweifeln am Leben zwischen zwei Kulturen.

„Ich bin 18 Jahre alt und Kurdin. Ich habe momentan Stress mit der Familie. Das erste Problem: wenig Freiheit. Aber ich brauch meine Freiheit. Wir leben in Deutschland und nicht in der Türkei. Meine ­Eltern verstehen das nicht.“

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Respektvoll und schlagfertig. Angepasst und selbstbewusst. Brav und sexy. Türkische Mädchen wollen ­alles. Den traditionellen ­Vorstellungen ihrer Familie gerecht werden und ihren Platz in der deutschen Gesellschaft erstreiten. Ein Spagat, den nicht jede schafft.

Untersuchungen haben gezeigt: Türkische Mädchen begehen beinahe doppelt so häufig Selbstmord wie Gleichaltrige aus deutschen Familien, fast fünfmal so oft versuchen sie, sich das Leben zu nehmen. Alarmierende Zahlen, auf denen ein mehrjähriges Projekt der Berliner Charité aufbaut, das im September beendet wird. Im Zentrum stand eine zweisprachige Krisentelefon-Hotline, unter großem Medien­aufgebot beworben: „Beende dein Schweigen, nicht dein ­Leben“. Das Forscherteam will nicht nur wissen, was die Gründe für die Suizide sind, sondern auch, ob sie durch Hilfsangebote verhindert werden könnten.

Angst, dass sie in den Sommerferien verheiratet werden

In NRW findet man nur sehr wenige spezialisierte Angebote in diesem Bereich. Im Eine-Welt-Zentrum in Herne gibt es seit Anfang der 90er Jahre eine Beratungsstelle für Migrantinnen. Opfer von Menschenhandel, Zwangsheirat und häus­licher Gewalt finden hier ­Hilfe, türkische Mädchen und Frauen bilden seit jeher einen Schwerpunkt der Klientel.

Sozialarbeiterin Renate Hildburg kennt die Verzweiflung der Mädchen: ihre Angst vor den Sommerferien, weil sie ahnen, dass sie im Urlaub verheiratet werden sollen. Den Kontrollwahn nicht nur der Väter, sondern auch der Brüder. Das bei der Freundin versteckte Handy, und die ­Lügen. Immer wieder diese Lügen. „Eine ganze Lügen­kultur wird da aufgebaut“, sagt Hildburg.

„Ich hab einen Freund. Er ist Iraker. Aber kein Moslem, ­sondern Christ. Auf jeden Fall hab ich deswegen oft Stress mit meiner Mutter. Und mein Vater hat rausgefunden, dass ich mit einem Jungen telefoniere. Er will die Nummer ausfindig machen, um zu erfahren, wo er wohnt.“


Hildburg weiß: „Es sind oft die Mütter, die ihren Töchtern das Leben schwer machen – aus Angst vor den Vätern.“ ­Dabei seien es doch ganz ­normale Sachen, die die ­Mädchen sich wünschen: „in die Stadt gehen, einen Bikini anziehen, Jungen kennen­lernen“. Wenn gar nichts mehr geht, hilft nur noch die Flucht: in eine andere Stadt, in ein ­anderes Bundesland.

Dann nimmt das eine Leid ein Ende – und ein neues ­beginnt: „Die Mädchen vermissen ihre Familie, sie hassen die ja nicht.“ Viele schaffen den Absprung deshalb nicht. Und auch, weil sie ein selbstständiges Leben nicht ­gewohnt sind. Sie kommen ­zurück, fügen sich.

Das Mädchenhaus Bielefeld bietet ebenfalls Schutz und Hilfe für junge Frauen. Von den 330 Mädchen, die im vergangenen Jahr in die Beratungsstelle des Vereins kamen, hatten 56 Prozent einen ­Migrationshintergrund, meistens einen türkischen. In der Zufluchtsstätte mussten 16 Deutsch-Türkinnen einquartiert werden, von insgesamt 56 Mädchen.

„Ich hab wirklich keine Kraft mehr. Meine Familie macht mich so fertig. Könnt ihr mir helfen???“


„Wir verstehen die Zwänge, die Kultur, die speziellen ­psychischen Belastungen“, sagt Diplom-Psychologin ­Ellen Solari. Das gehe von Angstattacken und Schweißausbrüchen über Selbstverletzung bis hin zur Depression. Der Druck, sich den Traditionen anzupassen und gleich­zeitig die Freiheiten, die sie woanders sehen, leben zu wollen, sei einfach zu groß, koste unendlich viel Kraft.

„Wenn die Mädchen sich für eine unabhängige Persönlichkeit entscheiden, dann ­befürchten sie, von der Familie ausgegrenzt zu werden.“ Manchmal seien die Bedingungen „nicht mehr lebbar“, sagt Solari, und meint das wortwörtlich. „Die meisten versuchen es aber solange, wie es nur irgend geht. Solange, bis sie merken, dass ihre Ressourcen nicht mehr ausreichen.“

Klar erkennbare Beratungsangebote gefordert

Zur Vorbeugung müsste es in jeder Stadt „klar erkennbare Beratungsangebote“ geben, sagt die Fachfrau. Das Thema müsse in Richtlinien für Beratungsstellen aufgenommen werden, in der Ausbildung von Erziehern verankert sein. „Wir wollen den Mädchen einen Weg zeigen, den sie noch nicht sehen“, erklärt Solari. Hierfür bräuchten diese dringend neutrale Ansprechpartner.

Nicht jedes Mädchen aus einer Migrantenfamilie werde zwangsverheiratet und ­geschlagen, betont Ellen Solari. „Wenn aber Migration zusammenkommt mit einer geringen Bildung der Eltern, dann erzeugt das einen sehr hohen Druck in der Familie.“

In Berlin werden die Ergebnisse der Studie jetzt erst einmal ausgewertet. Dr. Meryam Schouler-Ocak, die das Cha­rité-Projekt leitet, weiß jedoch schon jetzt: „Eine Hotline ­allein reicht nicht.“ Schlüsselpersonen müssten geschult werden, fordert sie, Lehrer zum Beispiel und Mitarbeiter von Beratungsstellen. Im Rahmen des Projektes, das vom Bundesbildungsministerium finanziert wurde, seien mehr als 220 Menschen gecoacht worden. „Das deutsche ­Gesundheits- und Beratungssystem muss sich bekannter machen“, sagt Schouler-Ocak, viele der Betroffenen würden die Strukturen nicht kennen.

Und: Vertrauen ist wichtig. Den Erfolg der Hotline erklärt Schouler-Ocak sich mit der Authentizität des deutsch­türkischen Teams. „Ich habe selbst eine Migrations­geschichte. Ich bin eine von euch.“

„Ich hab das durchgezogen, bin geflohen. Sei mutig und lass dich nicht unterkriegen wie unsere Mütter. Sei stark und schlau, dann wird sogar dein Vater große Augen ­machen.“

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