Ruhrgebiet. Opferschutzverbände fürchten, dass der Kachelmann-Prozess in Mannheim noch mehr Opfer davon abhält, das Verbrechen anzuzeigen. Staatsanwaltschaft entscheidet über Revision.

Sie waren zu zweit, und sie griffen Susanne* am helllichten Tag an. Hielten an der Haltestelle den Aufzug an, packten, kratzten, würgten sie, zerrissen ihr die Kleider und vergingen sich an ihr, alle beide. Und später, die Wachleute in der U-Bahn: Die haben nur gelacht. Die ersten, die ihr nicht glaubten, was sie selbst nicht wahrhaben wollte. Die ihr das Gefühl gaben, das sie nie mehr verloren hat seitdem: „Du bist selber schuld.“

Susanne hat keinen anderen gehabt, auf den sie hätte zeigen können; man hat die Täter nie gefunden. Aber vielleicht hätte sie das auch gar nicht gekonnt: sie, die vor dem eigenen Ehemann wochenlang schwieg. Die sich versteckte hinter heruntergelassenen Rollläden und ihre Wunden unter hochgeschlossenen Kleidern, den endlosen Befragungen „ausgeliefert“. Ob sie Sex habe mit ihrem Mann, wollte ein Gutachter wissen, welche Vorlieben sie habe im Bett, vielleicht solche mit Gewalt, auch früher schon? „Was dir danach widerfährt, ist manchmal schlimmer als das, was passiert ist.“

Sie kennt das aus ihrer Selbsthilfegruppe, und sie hat es jetzt im Kachelmann-Prozess gesehen. „Als Frau hast du in dieser Gesellschaft immer noch die Beweispflicht“, sagt die 48-Jährige, und sie versteht jede, die sich dem nicht gewachsen fühlt. Die sagt: „Ich habe eh keine Chance, ich halte den Mund.“ Es gibt viele, die genau das fürchten: dass sich nach dem Prozess von Mannheim noch weniger Opfer trauen, ihre Peiniger anzuzeigen. Denn „der Normalfall“ ist ja ohnehin schon, klagt der Dachverband der Frauenberatungsstellen BFF in Berlin, „dass das Verbrechen Vergewaltigung nicht geahndet wird“. Gerade in Zeiten von Kachelmann und Strauss-Kahn berichten BFF-Beraterinnen von großen Zweifeln bei Betroffenen, die auf beide Verfahren verweisen: „Mir wird sowieso nicht geglaubt.“

Druck erhöht die Glaubwürdigkeit

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Auch die Klientinnen von Manuela Lück haben den Fall Kachelmann verfolgt, die meisten von ihnen Missbrauchsopfer. „Sie registrieren vor allem“, sagt die Bochumer Anwältin, „dass beide Seiten verbrannt sind, dass es nur Verlierer geben kann. Das hat eine abschreckende Wirkung.“ Im Grunde hat das Verfahren der Anwältin also diese Arbeit abgenommen. Denn Abschreckung heißt ja auch: Aufklärung über Gefahren, die auf dem Rechtsweg lauern.

„Wir wiederholen ohnehin gebetsmühlenartig, was die Frauen beobachten konnten.“ Der Kachelmann-Prozess sei – abgesehen von dem gewaltigen Medieninteresse – überhaupt nicht spektakulär gewesen, ein Normalfall. Das Muster: Anfangsverdacht, relativ lange U-Haft, Aussage gegen Aussage, Indizienprozess, ein schmutziges Ringen, wer glaubwürdiger ist. Der Mechanismus: Weil es selten eindeutige Beweise gibt, bleibt nur die Aussage des Opfers als Indiz. Also wird es auf die Probe gestellt. Immer wieder. Druck erhöht die Glaubwürdigkeit.

Das muss ein Opfer ohnehin wissen, glaubt Lück: „Es muss psychisch stabil sein, es muss seine Geschichte erzählen können.“ Dem Anwalt, Polizisten, Gutachter, Therapeuten, Staatsanwalt, Richter, Schöffen, Verteidiger, möglicherweise vor dem Täter. Manche Frau bricht zusammen, Wissenschaftler sprechen von „sekundärer Viktimisierung“: Sie wird ein zweites Mal zum Opfer.

An wen soll sich das Opfer zuerst wenden?

Die wenigsten erstatten deshalb Anzeige, weiß auch Manuela Lück. Sie rät dennoch dazu: „Die Opfer wollen, das man ihnen zuhört und glaubt. Das ist ihnen meist wichtiger als die Strafe für den Täter.“ Auch die Opferschutzorganisation „Weißer Ring“ rät zu diesem Perspektivwechsel. Mit der Anzeige werde die Frau selbst aktiv und verlasse ihre Opferrolle. Auch wenn Sprecher Veit Schiemann weiß: „Gerade das Opfer spielt vor Gericht die Rolle eines Beweismittels. Es wird hervorgeholt wie eine blutige Klinge und ad acta gelegt.“

An wen aber sollte sich ein Opfer zuerst wenden? Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Die Polizei hat zwar in der Regel einen Opferschutzbeauftragten, der auch vorab berät und sich kümmert; bei Straftaten ist er aber verpflichtet, eine Anzeige aufzunehmen. Wer sich noch nicht sicher ist, kann sich an eine Frauenberatungsstelle oder einen Opferschutzverein wie den Weißen Ring wenden oder gleich an einen möglichst spezialisierten Anwalt. Der begleitet das Opfer dann in der Regel durch den gesamten Prozess.

Eine neue Alternative in der Region bietet die „Anonyme Spurensicherung nach einer Sexualstraftat“ (ASS). Frauen können in teilnehmenden Krankenhäusern oder bei Gynäkologen die Spuren einer Vergewaltigung dokumentieren lassen (Sperma, DNA, Fotos). Die Daten gehen unter einer Chiffre an die Gerichtsmedizin und werden dort gelagert. Das Opfer kann sich innerhalb von zehn Jahren zu einer Anzeige entschließen.

Das würde Susanne heute wohl sofort tun. Damals reinigte und verbrannte sie zunächst alle Beweise, neun Jahre danach würde sie ihre Vergewaltiger nicht mehr laufen lassen. Aber sie weiß: „Das geht nicht, ohne sich seelisch auszuziehen.“ Noch einmal.
* Name geändert