Tokio. . Mit der Ruhe ist es vorbei: Die Angst vor der radioaktiven Wolke hat den Großraum Tokio erfasst. Die Menschen hamstern Lebensmittel und versuchen aus der Stadt zu kommen. Sollte ein Fallout das Ballungsgebiet treffen, wären die Gesundheitsschäden wohl immens.

Viele Tage zeigten Fernsehbilder Japaner, die äußerlich ruhig und gefasst auf die apokalyptisch anmutenden Katastrophen in ihrem Land reagierten. Doch nun ist auch den Millionen Menschen in Tokio allmählich die Angst anzumerken.

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Denn während sie das Erdbeben vom Freitag vergleichsweise glimpflich überstanden haben und vom Tsunami verschont blieben, fürchten sie nun, dass noch mehr Radioaktivität aus dem 250 Kilometer nördlich gelegenen, zerstörten Atomkraftwerk in Fukushima die Hauptstadt erreichen könnte.

Am Dienstag kommt vorerst Entwarnung: Die UN-Wetterorganisation meldet, der Wind habe in Richtung Meer abgedreht. Für Japan und benachbarte Länder bestehe vorläufig keine Gefahr, heißt es. Doch bis dahin ist Tokio bereits eine andere Stadt geworden. Die sonst geschäftige Metropole, in deren Großraum mehr als 35 Millionen Menschen leben, ist ungewöhnlich ruhig. Die Einwohner kleben an ihren Fernsehgeräten, und wer doch in die Innenstadt geht, kann auf Großbildleinwänden die Nachrichten verfolgen.

Panikkäufe

Die Tokioter wappnen sich für den Ernstfall, kaufen Wasser, haltbare Lebensmittel und Atemschutzmasken, auch wenn die einfachen aus Stoff bei einem Ernstfall nur gegen radioaktiven Staub und nicht gegen Gase helfen würden. In den Kaufhäusern sind die Überlebensausrüstungen bereits ausverkauft.

Mit Hamsterkäufen stellen sich die Hauptstadtbewohner darauf ein, längere Zeit in ihren Häusern bleiben zu müssen. „Ich decke mich mit Getränken, Reis, Snacks und Fleisch ein“, sagt Mariko Kawase. Die Nachrichten verfolge sie aufmerksam, sagt die 34-jährige Hausfrau, während sie zwischen fast leeren Regalen in einem Supermarkt Waren in ihren Korb füllt.

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Die Behörden melden am Dienstagmorgen, es seien geringe Mengen an Radioaktivität in Tokio gemessen worden. Binnen vier Stunden gehen die Werte jedoch von 0,809 Mikrosievert auf 0,075 Mikrosievert zurück. Eine Gefahr für die Gesundheit bestehe nicht, versichern die Behörden. Bei einer normalen Röntgenuntersuchung werden 20 Mikrosievert abgegeben. Doch trotz der Beschwichtigung wächst seit der Nachricht die Anspannung in der Stadt.

Viele Menschen in Tokio wollen aber nicht abwarten, ob das Schlimmste eintritt. So wie es bereits viele Ausländer getan haben, versuchen sie, aus der Stadt zu gelangen, in Richtung Süden zu fahren, möglichst weit weg. Am Bahnhof Shinagawa, von wo aus die Züge nach Süden starten, warten Menschen dicht gedrängt auf den Bahnsteigen. An Kinder und Koffer geklammert, hoffen sie, der Megacity entfliehen zu können.

Deutsche Firmen reagieren auf die wachsende Gefahr

Die deutschen Firmen SAP und Infineon haben wegen der wachsenden Gefahr ihre Büros in der Hauptstadt geräumt. Die Mitarbeiter werden an anderen Standorten im Süden untergebracht. Der Autobauer BMW holt vorsorglich 50 Beschäftigte nach Deutschland zurück, für die, die bleiben wollen, organisiert das Unternehmen Unterkünfte im Süden des Landes. Auch die Fernsehsender ZDF und RTL ziehen ihre Reporter aus der japanischen Hauptstadt ab. Die Lufthansa steuert den Flughafen der Hauptstadt nicht mehr an. Sie ändert zudem die Flugrouten so, dass die Mitarbeiter nicht mehr in der Region Tokio übernachten müssen.

Die Deutsche Botschaft in Tokio „empfiehlt den Deutschen im Krisengebiet und im Großraum Tokyo/Yokohama zu prüfen, ob Ihre Anwesenheit in Japan derzeit erforderlich ist, und, wenn dies nicht der Fall sein sollte, ihre Ausreise aus dem Land in Erwägung zu ziehen. Dies gilt insbesondere für Familien mit kleinen Kindern.“

Kumiko Yoshida dagegen will bleiben - obwohl die Besitzerin eines Schönheitssalons derzeit kaum Kundinnen hat. Die 54-Jährige denkt nun auch an die Opfer des massiven Erdbebens vom vergangenen Freitag und des anschließenden Tsunamis im Nordosten Japans. „Mir kommen die Tränen, wenn ich daran denke, wie es den Opfern des Erdbebens geht“, sagt sie. „Ich will ihnen helfen.“

Dünne Informationslage

Beim Thema Radioaktivität fühlt sich Yoshida an die US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki am Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. „Japan hat Atombomben erlebt, daher sind wir sensibel beim Thema Strahlung“, sagt sie. „Ich mache mir Sorgen um Japans Zukunft. Die Lebensmittel sind jetzt bestimmt verstrahlt.

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Die Informationslage ist zu dünn, um die Gefahr für die Menschen in Japan abschätzen zu können, beklagt Sebastian Pflugbeil von der Gesellschaft für Strahlenschutz in Berlin. Er befürchtet jedoch, dass die Situation in den nächsten Tagen kritischer werden könnte.

Pflugbeil verfolgt die Nachrichten aus den vier Unglücksreaktoren in Fukushima mit großer Sorge. Am Dienstagmorgen Ortszeit hatte es eine weitere Explosion gegeben, und im Reaktor 4, wo alte Brennstäbe lagern, war ein Brand ausgebrochen. Pflugbeil spricht von einer „höllischen Gefahr“.

Keiner kann im Moment sagen, wie weit die Situation noch von einem Fallout - einer großräumigen radioaktiven Verseuchung - entfernt ist. Fakt ist: Würde eine radioaktive Wolke den südlich gelegenen Großraum Tokio treffen, wäre das eine Katastrophe. „Die Strahlung müsste gar nicht so hoch sein, um große Gesundheitsschäden anzurichten“, sagt Pflugbeil. Im Ballungsraum Tokio leben 35 Millionen Menschen. Es ist damit das dicht besiedeltste Gebiet der Welt.

Menschen im Großraum Tokio gefangen

Deshalb ist es auch völlig undenkbar, die Menschen rund um Tokio - so wie im unmittelbaren Umkreis der AKW - aus der Gefahrenzone zu bringen. „Eine solche Situation könnte man nicht mehr beherrschen“, beurteilt Hans-Jürgen Bosch, Mitarbeiter im Katastrophenschutz der Bezirksregierung Düsseldorf.

Den Menschen bleibt jedoch nicht viel, um sich selbst zu schützen. Dazu zählen Experten u.a. die Einnahme von Jodtabletten. Außerdem sollten Menschen das Haus nicht verlassen und Fenster und Türen geschlossen halten.

Nachdem jeden Tag neue Schreckensmeldungen aus dem Atomkraftwerk Fukushima kommen, kann sich niemand in Sicherheit wähnen. Was passieren wird, ist nicht abzuschätzen. Das Wetter könne sich schnell ändern, betont die UN-Wetterbehörde. Eine Vorhersage für die kommenden zwei bis drei Tage könne nicht abgegeben werden.

„Ich mache mir große Sorgen über den Fallout“, sagt der 20-jährige Yuto Tadano, der als Techniker in Fukushima arbeitete und in einer der vielen Notunterkünfte im Norden des Landes untergebracht ist. „Wenn wir ihn sehen könnten, könnten wir entkommen, aber das können wir nicht.“ (afp/jgr/dapd)