Tripolis/Brüssel. Regierungsgebäude in Libyen brennen, über Tripolis sollen Kampfjets Bomben auf Demonstranten abwerfen. Angeblich haben sich Soldaten den Protesten angeschlossen, ganze Städte sollen in der Hand der Opposition sein. Spekulationen um Gaddafi-Flucht.

Libyen steht am Abgrund. Über der Hauptstadt Tripolis donnerten am Montagabend nach Augenzeugenberichten Kampfflieger hinweg. Scharfschützen bezogen auf Dächern Stellung, offenbar um Regierungsgegner von außerhalb davon abzuhalten, sich den immer massiveren Protesten gegen Staatschef Muammar al Gaddafi anzuschließen, wie ein in London ansässiger Aktivist, Mohammed Abdul Malek, unter Berufung auf Bewohner berichtete.

Das Staatsfernsehen berichtete, das Militär habe "die Verstecke der Saboteure" gestürmt. Die Kommunikationsverbindungen in die Stadt war unterbrochen, und auch Handyanrufe nach Libyen waren vom Ausland aus unmöglich. Das Parlament stand in Flammen. Das Regime drohte seinen Gegnern, die inzwischen offenbar die zweitgrößte Stadt Bengasi kontrollieren, mit einem "Kampf bis zum letzten Mann". Nach einem Bericht des arabischen Fernsehsenders Al Dschasira griff am Montagabend das Militär einen riesigen Demonstrationszug in der Hauptstadt Tripolis mit Flugzeugen an.

Auch scharfe Munition werde eingesetzt, meldete der Sender unter Berufung auf Informanten. Eine Augenzeugin berichtete über Satellitentelefon von einem Massaker unter den Demonstranten in Tripolis. Die libyschen Behörden haben dem Sender zufolge alle Festnetz- und Funktelefonverbindungen im Land unterbrochen.

Gaddafi soll noch immer in Libyen sein

Libyens Machthaber Muammar el Gaddafi ist nach Regierungsangaben noch immer im Land. "Der Staatschef ist in Libyen, ebenso wie alle Regierungsvertreter", sagte Vize-Außenminister Chaled Kaim am Montagabend im libyschen Fernsehen und reagierte damit auf Gerüchte, nach denen Gaddafi ins Ausland geflüchtet sein könnte. Der britische Außenminister William Hague hatte zuvor am Rande des Treffens der EU-Außenminister in Brüssel gesagt, Gaddafi könnte Libyen in Richtung der venezolanischen Hauptstadt Caracas verlassen haben.

Venezolanische Regierungskreise dementierten gegenüber AFP ebenfalls, dass sich Gaddafi auf dem Weg nach Venezuela befinde. Auch Venezuelas Außenminister Nicolas Maduro bestätigte am Abend nach einem Gespräch mit seinem libyschen Amtskollegen, dass Gaddafi in Libyen sei, wo er sein Amt ausübe und "sich der Situation stellt".

Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen zeigte sich "schockiert von der wahllosen Gewalt gegen friedliche Demonstranten". Die libysche Bevölkerung zeige ein starkes Bedürfnis nach demokratischem Wandel und auf diese legitime Forderung müsse reagiert werden, erklärte Rasmussen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zählten zu den "fundamentalen Rechten". "Als Generalsekretär eines Bündnisses von Demokratien glaube ich fest daran, dass die Demokratie die einzig solide Basis für langfristige Stabilität ist", erklärte Rasmussen. Auf lange Sicht könne keine Gesellschaft den Wunsch ihrer Bevölkerung ignorieren.

Massaker in einem Vorort von Tripolis?

Unterdessen berichteten Einwohner verschiedener Vororte von Tripolis der Nachrichtenagentur AFP am Montagabend von weiteren tödlichen Auseinandersetzungen. "Was hier in Tadschura heute passiert ist, ist ein Massaker", sagte ein Einwohner, der anonym bleiben wollte. Ein Augenzeuge im Vorort Fachlum berichtete von Hubschraubern, die über dem Viertel kreisten und bewaffnete afrikanische Söldner herabließen. Es habe zahlreiche Tote gegeben.

Bundes-Außenminister Guido Westerwelle zeigte sich über das offenkundige Ausmaß der Gewalt in dem nordafrikanischen Land bestürzt. Er nehme die Drohung eines Gaddafi-Sohnes sehr ernst, wonach sich das Regime bis zur letzten Kugel verteidigen werde, sagte der FDP-Politiker. Wenn unverblümt mit Bürgerkrieg gedroht werde, sei dies ein Zeichen dafür, dass das System am Ende sei "und sich nur mit Gewalt und Mord und Totschlag über Wasser halten kann". Eindeutig sprach sich Westerwelle für ein Ende der Herrschaft Gaddafis aus: "Wir wollen den Wandel, den Wechsel" hin zu einer demokratischen Gesellschaft, sagte Westerwelle.

In Libyen selbst herrschen unterdessen bürgerkriegsähnliche Zustände: Am Montag eskalierte der Konflikt zwischen Diktator Muammar el Gaddafi und seinem Volk. „Viele Städte“ wie Bengasi und Surt seien in der Hand der Demonstranten, weil Soldaten sich den Protesten angeschlossen hätten, teilte die in Paris ansässige Internationale Föderation der Menschenrechtsligen (FIDH) mit.

Schon 400 Tote in Libyen?

Mehrere Tunesier, die aus Libyen geflüchtet waren, sagten der Presseagentur AFP, die libysche Polizei habe die Stadt El Sawia westlich von Tripolis verlassen. Nach FIDH-Angaben wurden seit dem Beginn des Aufstands vor einer Woche 300 bis 400 Libyer getötet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch sprach von mindestens 233 Toten.

Gaddafis Sohn Seif el Islam warnte vor einem Bürgerkrieg mit tausenden Toten und kündigte Reformen an. Das libysche Parlament werde schon bald zusammentreten, um neue Strafgesetze sowie Reformen bei Presse- und Bürgerfreiheiten zu verabschieden, sagte er in der Nacht zum Montag in einer Fernsehansprache. Gleichzeitig machte er deutlich, dass sein Vater nicht abdanken werde. Die Führung des nordafrikanischen Landes hatte immer betont, die Revolte entschlossen zu bekämpfen.

Unterdessen begann der Zusammenhalt innerhalb des Regimes zu bröckeln. Nachdem der ständige Vertreter Libyens bei der Arabischen Liga, Abdel Moneim el Honi, bereits am Sonntag seinen Posten niedergelegt und sich den Protesten angeschlossen hatte, entschieden sich am Montag auch Libyens Botschafter in Indien und ein ranghoher Diplomat in China zu diesem Schritt. Letzterer rief im Fernsehsender El Dschasira das gesamte diplomatische Korps auf, sich seinem Rücktritt anzuschließen.

Auch der libysche Justizminister ist einem Medienbericht zufolge aus Protest gegen die Unterdrückung von Demonstrationen zurückgetreten. Mustafa Mohamed Abud al-Dscheleil habe wegen des exzessiven Einsatzes von Gewalt seinen Rücktritt erklärt, berichtete die libysche Zeitung „Kurina“ am Montag.

Demonstranten zünden Parlament an

Die Unruhen in Libyen haben am Montag eine neue Dimension erreicht. In der Hauptstadt Tripolis stand der Volkskongress in Flammen. „Ich kann die brennende Halle des Volkes sehen, die Feuerwehr ist vor Ort und versucht, das Feuer zu löschen“, berichtete ein Reuters-Reporter. Das Gebäude wird vom Parlament für seine Sitzungen in Tripolis genutzt.

Regierungskritische Demonstranten haben in der libyschen Hauptstadt Tripolis außerdem das Gebäude eines staatlichen Radio- und Fernsehsenders verwüstet. Auch in der Zentrale des Olympischen Komitees sei Feuer ausgebrochen, hieß es auf der regierungstreuen Nachrichtenseite Kurejna. Zudem wurden in der Nacht zum Montag mehrere Polizeireviere und öffentliche Gebäude in verschiedenen Teilen der Stadt angezündet, wie Augenzeugen am Montag der Nachrichtenagentur AFP sagten. Während der Nacht seien in der Stadt immer wieder Schüsse zu hören gewesen. Die in dem Rundfunkgebäude untergebrachten Kanäle waren im Jahr 2008 von Seif el Islam Gaddafi, dem Sohn von Staatschef Muammar el Gaddafi, gegründet und später verstaatlicht worden.

Deutschland wirft Gaddafi „unglaubliche Entgleisung“ vor

Deutschland hat die Drohung des libyschen Staatschefs Muammar Al Gaddafi, einen Flüchtlingsstrom aus Nordafrika nach Europa zu schicken, am Montag scharf kritisiert. Dies sei eine „unglaubliche Entgleisung“, sagte der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, bei einem EU-Außenministertreffen in Brüssel. „Die EU darf sich hier nicht erpressen lassen.“

Weiter verurteilte die Bundesregierung die Gewalt. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sei „bestürzt“ und appelliere an die politisch Verantwortlichen, Versammlungsfreiheit zu gewähren und „den Dialog mit der Bevölkerung“ zu suchen, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Ähnlich äußerten sich die USA und die Arabische Liga. Das Auswärtige Amt hatte am Sonntag eine Reisewarnung herausgegeben und deutschen Bürgern die Ausreise empfohlen.

Die EU-Außenminister diskutierten in Brüssel einen Notfallplan für EU-Bürger in Libyen. Es gebe eine „Koordinierung“ in der Frage, sagte Spaniens Außenministerin Trinidad Jiménez. Portugal und Österreich schickten erste Flugzeuge, um eigene und EU-Bürger auszufliegen. Seit Sonntag hatten bereits mehr als 2300 Tunesier das Land verlassen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan ließ hingegen nach einem Telefonat mit Gaddafi mitteilen, dieser wolle für die Sicherheit türkischer Bürger sorgen.

Libysche Kampfjets landen auf Malta

Nach der Landung mehrerer libyscher Kampfflugzeuge und Hubschrauber auf Malta hat Italien nach Angaben der Nachrichtenagentur ANSA sämtliche Luftstützpunkte des Landes in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Wie ANSA am Montagabend unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Rom meldete, sollen zudem zahlreiche Hubschrauber der italienischen Luftwaffe sowie der Marine in den Süden des Landes geschickt werden. Demnach wurden diese Entscheidungen in Reaktion auf die Landung der Flugzeuge in Malta getroffen.

Nach Angaben der Armee waren zuvor zwei libysche Kampfflugzeuge und zwei zivile Hubschrauber auf Malta gelandet. An Bord der Militärflugzeuge seien vier Soldaten, die nach eigenen Angaben von einem Militärstützpunkt in der von Demonstranten belagerten libyschen Stadt Bengasi flohen, hieß es aus Kreisen der maltesischen Armee. Sie hätten auf Malta um Treibstoff für ihre Flugzeuge gebeten. An Bord der Hubschrauber seien sieben Passagiere gewesen, die eigenen Angaben zufolge französische Staatsbürger seien, hieß es weiter.

Die Piloten der Kampfflugzeuge sollen nach maltesischen Regierungs-Angaben ausgesagt haben, ihnen sei befohlen worden, Bomben auf Demonstranten zu werfen.

Wegen der Gewalt gegen Demonstranten in Libyen fordern Menschenrechtler den Ausschluss des Landes vom UN-Menschenrechtsrat. „Wenn Augenzeugen von Massakern und bürgerkriegsähnlichen Zuständen auf Libyens Straßen berichten, können die Vereinten Nationen nicht einfach so tun, als ob nichts wäre“, erklärte Ulrich Delius von der Gesellschaft für bedrohte Völker am Montag in Göttingen. Libyen müsse vom Menschenrechtsrat suspendiert werden.

Großkonzerne ziehen Personal ab

Auch ziehen immer mehr internationale Unternehmen Teile ihres Personals aus dem nordafrikanischen Land ab, darunter Siemens, die RWE-Tochter RWE DEA und die BASF-Tochter Wintershall. Auch der norwegische Ölkonzern Statoil und der italienische Luftfahrt- und Rüstungskonzern Finmeccanica brachten Mitarbeiter aus dem Land.

Der britische Ölkonzern BP bereitete eine mögliche Evakuierung binnen 48 Stunden vor. Im Falle einer Evakuierung müssten auch laufende Bohrungen im Westen des Landes eingestellt werden, sagte ein BP-Sprecher. Der Konzern beschäftigt in Libyen 140 Mitarbeiter, 40 davon sind Ausländer.

Libyen ist nach Nigeria, Algerien und Angola der viertgrößte Ölproduzent in Afrika. Das Mitglied der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) fördert täglich rund 1,8 Millionen Barrel (je 159 Liter) Öl. Der Großteil des libyschen Öls wird nach Europa exportiert. Die Unruhen in dem Land trieben den Ölpreis für die Nordseesorte Brent am Montag über die Marke von 105 Dollar pro Barrel - der höchste Stand seit Ende September 2008. In letzter Zeit hat Libyen auch das verstärkte Erschließen seiner Gasvorräte begonnen. Zuletzt führte Libyen zehn Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr aus. (rtr/dapd/afp)