Berlin.. Im Interview mit DerWesten erläutert Aiman Mazyek warum Ehrenmorde nichts mit Religion zu tun haben, warum Muslime in Deutschland frustriert sind und weshalb er sich ein intensiveres Nachdenken über islamischen Glauben wünscht.

Ein Restaurant am Brandenburger Tor. Aiman Mazyek sitzt direkt am Eingang, Milchkaffee und Laptop vor sich. „90 Minuten haben wir“, sagt er, „dann wartet mein nächster Termin.“ Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Zentralrates der Muslime in Deutschland.

Herr Mazyek, der oberste Vertreter der Evangelischen Kirche in Deutschland sagt, dass der Islam hier zu Lande „von Aufklärung und Religionskritik kaum irritiert“ sei. Hat Nikolaus Schneider Recht?

Mazyek: Die Muslime können und müssen sich immer wieder aus sich selbst heraus erneuern. Unsere Religion bietet dafür ausreichende Grundlagen. Die Aussagen Schneiders waren auf der Synode gesprochen, also an das dortige Publikum gerichtet und nicht in erster Linie an die Muslime. Ich hätte da nach den bekannt gewordenen Kindesmisshandlungen in der Kirche eigentlich mehr Selbstkritik erwartet. Und nicht die Beschäftigung mit einer anderen Religion.

Warum so dünnhäutig?

Mazyek: Ach was, ich nehme das sportlich und habe Verständnis für Abgrenzungsversuche zum Islam.

Braucht der Islam in Deutschland einen reformatorischen Aufbruch, der sich gegen archaische Ehrvorstellungen und Geschlechter-Apartheid wendet?

Mazyek: Mit Ihrer Frage tun Sie so, als hätte der Islam eine gewisse Nähe zu Ehrenmord oder Zwangsehe. Das entspringt nicht der Realität eines gelebten Islam. Ein Ehrenmord ist nicht nur eine strafrechtliche Handlung, er verletzt auch die Menschenrechte und das islamische Gebot in einem. Wenn Muslime es dennoch praktizieren, ist das ein eklatanter Bruch ihrer Religion.

Die 99 Prozent friedliche Muslime besser einbeziehen

Die Frage ist Ihnen also zu allgemein gestellt?

Mazyek: Ja. Ich nenne Ihnen ein anderes Beispiel, das symptomatisch ist: Wir diskutieren seit zehn Jahren über die angeblich massenhafte Weigerung muslimischer Eltern, ihre Kinder auf Klassenfahrten zu schicken. Das hat sich eingebrannt in die öffentliche Debatte. Nun belegt die aktuelle Studie der NRW-Landesregierung, dass nur 3 % der betroffenen Eltern hier ein Problem haben.

Einen Kritikpunkt haben Sie noch frei.

Mazyek: In der Anti-Terror-Debatte gilt nahezu jede Moschee als potenzieller Vorbereitungsort von Anschlägen. Wir habe unsere Imame im Dezember aufgerufen, in den Freitagspredigten einen Kernsatz zu benutzen: „Die Verteidigung unserer freiheitlichen Grundordnung ist eine Bürger- und Islampflicht.“ Die Reaktion in den Moscheegemeinden war hervorragend. In der Öffentlichkeit wurde davon kaum Notiz genommen. Ich frage mich, warum.

Jetzt sind Sie aber wirklich dünnhäutig.

Mazyek: Ich bin nur verärgert. Der beste Weg, sich vor Extremismus zu schützen, ist es doch, die 99 Prozent friedlichen Muslime einzubeziehen. Aber dieses Potential wird nicht genutzt. Stattdessen reagieren nicht wenige bei diesem Thema reflexartig mit Angst und setzen nebenher die Muslime einem Generalverdacht aus, mit den bekannten Folgen.

Welche Folgen?

Mazyek: Moscheeanschläge, Übergriffe auf die muslimische Wohnbevölkerung. Da wünsche ich mir mehr Unterstützung.

„Angst erzeugt Gegenangst“

Von wem?

Mazyek: Ich hätte zum Beispiel von der Bundeskanzlerin erwartet, dass sie sich nach den gehäuften Attacken auf Moscheen deutlicher vor uns stellt. Es ist egal, ob ein muslimisches, jüdisches oder christliches Gotteshaus angegriffen wird. Wir alle sind damit angegriffen. Warum ist kein Spitzenpolitiker in eine Moschee gegangen? Ein kleines Zeichen der Solidarität, dieses wichtige Signal vermisse ich.

Warum ist die Diskussion über den Islam so verkrampft, warum schwingen auch Sie oft im Gegenzug die Keule der Islamfeindlichkeit?

Mazyek: Ich schwinge keine Keulen, ich beschreibe das Phänomen. Angst erzeugt Gegenangst. Politiker haben es in der Hand, Angst abzubauen und gegenseitigen Respekt vorzuleben. Doch der Brunnen scheint vergiftet zu sein. Die vielen Stellvertreter-Debatten und Schwarze-Peter-Spiele machen Muslimen Angst. Viele ziehen sich ins Schneckenhaus zurück. Gebildete gehen ins Ausland. Oder in ihre alte Heimat.

Seit wann ist das so?

Mazyek: Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 erleben Muslime immer wieder die fehlende Trennschärfe zwischen Gewalt, Extremismus und unserer Religion. Wenn sie jedes Mal auf die Anklagebank gesetzt werden und den erhobenen Zeigefinger sehen, gerade in Wahlkampfzeiten, das kann schon zermürben.

Sind Sie zermürbt?

Mazyek: Ich versuche es nicht zu sein. Aber manchmal fällt es schwer. Ich bin jetzt 42. Ich habe mit 18 die ersten Gehversuche in meiner Gemeinde gemacht. Wenn ich zurückblicke, muss ich sagen, ich habe mir mehr von meinem Land erwartet. Recht zu haben und Recht zu bekommen, das ist besonders für Muslime noch ein großer Unterschied. Aber mein Glauben gibt mir die Hoffnung, dass das eines Tages nicht mehr so ist.

Der Islam bleibt unser seinen Möglichkeiten, „sich zeitgemäß zu begreifen“

Was ist das grundlegende Missverständnis über den Zentralrat der Muslime?

Mazyek: Unsere Moscheegemeinden gewährleisten die religiöse Grundversorgung, von liberal bis konservativ. Bei uns spielt sich täglich muslimisches Leben ab, vom Gebet bis zur Organisation der Pilgerfahrt nach Mekka. Die Debatten über einen neuen, einen anderen Islam werden nur von einer Minderheit geführt.

Bedauern Sie das?

Mazyek: Ich leide darunter, dass der Islam auch in Deutschland von seinem intellektuellen Anspruch und Potenzial her weit unter seinen Möglichkeiten bleibt, sich zeitgemäß zu begreifen.

Woran liegt das?

Mazyek: Wir haben anders als die großen Kirchen keine Akademien und kaum Bildungseinrichtungen, die Raum geben können, um kontroverse Debatten zu führen. Wir haben durchaus Nachholbedarf, etwa bei der Abgrenzung unserer Religion von Ideologien. Da wird viel von den Muslimen erwartet. Aber wenn es dann um die Unterstützung durch die öffentliche Hand geht, lässt man uns nicht selten im Regen stehen.

Manchmal unterscheiden islamische Theologen nicht genug zwischen Politik und Religion.

Mazyek: Die Politisierung unserer Religion hat uns nicht gut getan, sie ist aber im Abflauen begriffen. Selbstmord oder dass Töten unschuldiger Zivilisten zählt zu den schlimmsten Sünden im Islam. Das ist einhellig von allen Gelehrten so unterschrieben. Deshalb darf kein Gelehrter aus politischen Erwägungen das aufweichen oder auch nur minimal legitimieren. Das Aufbegehren gegen Unrecht, Unterdrückung oder die Abwehr gegen militärische Gewalt oder Besatzung bleibt davon auch als Selbstverteidigungsfall natürlich unberührt. Diese Trennschärfe wird leider nicht immer eingehalten und so konterkarieren wir unserer eigene Religion.

Interreligiöses Gebet zu 9/11

Was sind Ihre Schlüsselthemen für einen zeitgemäßen Islam in Deutschland?

Mazyek: Die Beschäftigung mit Gerechtigkeit, Demokratie und den Menschenrechten.

Wie gehen Sie mit Engstirnigkeit und Vernunftfeindlichkeit mancher Muslime um?

Mazyek: Ein Gelehrter hat mir vor 20 Jahren erzählt, als er gesehen hat, dass ich eine große Liebe zur deutschen Klassik entwicklelt habe, dass man nur „1001 Nacht“ lesen müsse. Dann könne man sich die ganze deutsche Klassik sparen. Von Nietzsche, Goethe oder Kant hatte der noch nie etwas gehört. Ich habe ein Gedicht geschrieben, um meine Enttäuschung über diese Arroganz zu verarbeiten. Wie es auf westlicher Seite mancherorts an Demut und Respekt gegenüber der islamischen Welt fehlt, so gibt es nicht weniger Vorurteile, Selbstgerechtigkeit und Ignoranz auf muslimischer Seite gegenüber der westlichen Welt. Ich werde mich nie daran gewöhnen, stets zwischen all diesen Stühlen zu stehen. Das Spiel „Die Reise nach Jerusalem“ würde ich wohl immer verlieren. (lacht)

Mazyek: Wir müssen den Focus verschieben. Die, die sich der Integration verweigern, sind absolute Minderheit. Die weitaus meisten Muslime sind Leistungsträger dieser Gesellschaft. Das in den Vordergrund zu stellen, ohne Defizite auszublenden, das wäre ein gutes Ziel.

Was macht der Zentralrat der Muslime am 11. September, zehn Jahre nach der Katastrophe von 9/11 in New York und Washington?

Mazyek: Ein Datum, auf das ich mit gemischten Gefühlen sehe. Viele Muslime sind unsicher, was sie rund um diesen Tag erwartet. Ich finde die Idee eines großen interreligiösen Gebetes gut. Wir werden uns daran vielfältig beteiligen.

Wann sitzt der Zentralrat wieder in der Islamkonferenz des Bundesinnenministers mit am Tisch?

Mazyek: Unsere Teilnahme war und ist von leicht umsetzbaren Bedingungen abhängig. Der Bund kann den Ländern Rüstzeug an die Hand geben, um die Gleichstellung und Gleichberechtigung des Islam mit den Staatskirchen voranzutreiben. Die ganze Palette muslimischer Zivilorgansiationen und die Landesverbände müssen dabei sein. Und, drittens, Islamfeindlichkeit verdient es, als eigenständiges Thema behandelt zu werden. Solange das nicht erfüllt ist, machen wir konstruktive Opposition, wie bisher.

Kann die Islamkonferenz ohne den Zentralrat etwas erreichen?

Mazyek: Nicht nur der Zentralrat, der 300 Moscheegemeinden und 19 Verbände vertritt, auch der Islamrat sitzt nicht mit am Tisch. Da stellt sich schon die Frage der Legitimität. Zumal ja klar ist: Auf der Bundesebene liegt nicht die Kompetenz zur Regelung von Religionsfragen. Lehrstühlen, Unterricht und Seelsorge - all das machen ja die Länder.