Berlin. . Nach den Meuterei-Gerüchten steht die Ausbildung auf dem Segelschulschiff in der Kritik. Und der Kommandant schimpft über die motorischen Fähigkeiten der Kadetten. Ist das noch die maritime Visitenkarte Deutschlands?

Am 7. November 2010 erhält Obermaat Sarah Lena Seele den Befehl zum Aufentern. So heißt der Klettervorgang in den Hauptmast der Gorch Fock. Das Segelschulschiff der Bundesmarine liegt an diesem windarmen Tag im Hafen von Salvador da Bahia in Brasilien. Die 25-jährige Offiziersanwärterin aus dem Landkreis Holzminden in Niedersachsen steigt wie befohlen – und wie üblich ungesichert – in die Takelage. Beim Abstieg in 27 Metern Höhe verliert sie plötzlich den Halt, stürzt aus ungeklärter Ursache auf das Oberdeck und stirbt wenig später in einem Krankenhaus.

Kommandant Norbert Schatz, ein Bayer und Berg von einem Mann, reagiert schnell. Die Ausbildung auf der 156. Reise des Dreimasters wird abgebrochen. Die Gorch Fock setzt ihren bis Sommer 2011 geplanten Trip zwar fort. Die 70 Kadetten aber werden zur Marineschule Mürwik bei Flensburg ausgeflogen. Dort lernen sie theoretisch und am Simulator das Handwerk.

„Die Jugend sitzt nicht mehr im Kirschbaum, sondern vor dem Computer“

Bei einem Zwischenstopp in Argentinien Anfang Dezember sagt Schatz, womöglich müsse, wohlgemerkt nach ausgiebiger Untersuchung des Vorfalls, das Ausbildungskonzept überarbeitet werden. Mehr Training, strengere Auslese. „Die motorischen Fä­higkeiten haben abgenommen, die Jugend sitzt nicht mehr im Kirschbaum, sondern eher vorm Computer“, sagt er in Anspielung auf den tödlichen Sturz zu Journalisten.

In Mürwik müssen das manche der Kameraden von Sarah Lena Seele als zynisch empfunden haben. Sie haben noch in unguter Erinnerung: Im September 2008 ertrank die 18-jährige Offiziersanwärterin Jenny Böken nördlich von Norderney, nachdem sie während ihrer Seewache auf der Gorch Fock über Bord gefallen war. 2002 starb ein 19-Jähriger nach einem Sturz aus der Takelage. 1998 fiel ein ebenfalls 19-Jähriger aus dem Großmast der Gorch Fock aus zwölf Metern Höhe auf die Planken. Tot. Tragische Fälle. Tragische Einzelfälle auf einem Schiff, auf dem in einem halben Jahrhundert mehr als 14 500 Offizier- und Unteroffizieranwärter unfallfrei ihre Grundausbildung absolviert haben. So war das Bild der „Botschafterin in Weiß“, wie die Marine ihren Prestige-Segler nennt, bis Anfang dieser Woche. Es hat mit dem, was in ersten Umrissen heute auftaucht, nur noch wenig zu tun.

Ein beunruhigendes Bild

Denn inzwischen ist ein Brief des Wehrbeauftragten des Bundestags, Hellmut Kö­nigshaus, und der Verlauf ei­ner Sitzung des geheim tagenden Verteidigungsausschusses bekannt geworden, der ein „beunruhigendes Bild zeichnet“, wie die FDP-Abgeordnete Elke Hoff der WAZ sagte.

Drei Mitarbeiter von Kö­nigshaus waren in der vergangenen Woche in Mürwik und sprachen mit 45 Beteiligten, die seinerzeit in Brasilien mit an Bord waren. Was sie be­­schreiben, wirft, so es wahr ist, ein fatales Licht auf Kommandant Schatz und seine höchsten Offiziere. Nach dem tödlichen Sturz weigerten sich laut Kö­nigshaus etliche Kadetten, in die 45 Meter hohen Masten zu steigen. Auf sie sei trotz des Todesfalls massiver Druck ausgeübt worden, es dennoch zu tun. „Wenn Sie nicht hochgehen, können Sie das Offizierspatent vergessen“, heißt es in dem Brief des Wehrbeauftragten an Verteidigungsminister zu Guttenberg (CSU). In einem Fall sei ein An­wärter, der unter extremer Höhenangst leidet, auf diese Weise in den Mast gezwungen worden.

Die Wahrheit am Ende der Welt

In vier Fällen habe Schatz sogar erwogen, Ka­detten wegen „Meuterei“ nach Hause fliegen zu lassen. Ihnen wurden Ablösungsverträge vor­gelegt. Kurios: In letzter Minute seien die Offiziersanwärter von der Schiffsführung aufgefordert worden, die Schriftstücke zu verbrennen, heißt es in Königshaus’ Brief. Dazu kommt nach An­gaben von Mitgliedern des Verteidigungsausschusses ei­ne Ge­schmacklosigkeit ohnegleichen: Tage nach der Tragödie soll auf Direktive des Kapitäns an Bord „eine Karnevalsfeier durchgezogen worden sein“.

Die Affäre hat in Berlin hektische Aktivitäten ausgelöst. Die Marine hat ein Ermittlungsteam entsandt. Der Verteidigungsminister verlangt zügige Aufklärung. Die Gorch Fock wurde in den Hafen von Ushuaia auf Feuerland an der Südspitze Südamerikas beordert. Kommt am Ende der Welt die Wahrheit ans Licht?

Beim Aufentern ist kein Seemann gesichert

Seit 1958, als die 89 Meter lange und nach dem Hamburger Dichter Gorch Fock benannte Bark die Werft Blohm & Voss verließ, bekommen Landratten feuchte Au­gen, wenn sie den Heimathafen Kiel verlässt. Drei Masten, 2000 Quadratmeter Segelfläche – auf den Weltmeeren gilt sie als maritime Visitenkarte Deutschlands. Dass Enge und fehlender Komfort manchen zur Verzweiflung gebracht haben sollen, wird oft verschwiegen. Das gilt auch für das Thema Sicherheitsvorkehrungen. Beim Aufentern ist kein Seemann gesichert. „Erst oben schlägt man einen Karabinerhaken an ein Sicherungsseil aus Draht“, sagte ein Marine-Experte gestern. Diese Praxis, heißt es beim Bundeswehrverband, ist schon oft „als zu gefährlich kritisiert worden“.

Übertrieben findet das Fregattenkapitän Achim Winkler, der Ausbildungsleiter auf der Gorch Fock war. „Es ist technisch unmöglich, sich beim Aufentern anzuseilen. Um sich festzuhalten, hat man ja zwei Hände frei.“ Ein Satz, der einen frösteln lässt, wenn man an Sarah Lena Seele denkt.