Brüssel. .

Die EU hat den tunesischen Diktator Ben Ali jahrelang gestützt , sagt der EU-Parlamentarier Daniel Cohn-Bendit. Er fordert ein Umdenken von den großen Parteien - und ein Umschichten der Hilfsgelder.

Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen im Europa-Parlament und Kenner der politischen Verhältnisse in Nordafrika, fordert eine neue EU-Politik gegenüber Tunesien und den anderen den Maghreb-Staaten. Die Fragen stellte Knut Pries.

Herr Cohn-Bendit, ist Tunesien auf dem Weg zur Demokratie oder ins Chaos?


Daniel Cohn-Bendit: Bei solchen spontanen Veränderungen gibt es immer eine Portion Chaos. Bürgerwehren und Armee versuchen, eine Ordnung herzustellen gegen die verschiedenen Polizeitruppen.

Wie ist das Kräfteverhältnis?


Es gab 35.000 Soldaten und 200.000 Polizeikräfte unterschiedlicher Art. Ben Ali war einst Polizeichef und hat seine Macht auf eine eigene Polizeistruktur aufgebaut. Der Diktator ist gefallen, die Diktatur noch nicht. Aber sie zerbröselt.

Ist Tunesien der Auftakt einer regionalen Bewegung, stehen wir vor einer Demokratisierung der arabischen Zwangsregime?


Inschallah – das ist eine Hoffnung! Natürlich sehen die diktatorischen Potentaten mit Schrecken, was in Tunesien passiert. Da führen laizistische, linke Kräfte die Revolte an, keine islamistischen. Das wäre in Algerien oder Ägypten vielleicht anders. Eine positive Ansteckung ist nicht ausgeschlossen, aber keineswegs sicher.

„Christdemokraten und Sozialdemokraten haben Ben Ali gestützt“

Die EU und der politische Westen haben zur Unterdrückung durch das Ben-Ali-Regime geschwiegen, weil sie angeblich die Bedingung für Stabilität war.


Die Grünen und Liberalen haben ständig im Europa-Parlament Initiativen ergriffen. Christdemokraten und Sozialdemokraten haben Ben Ali gestützt als Bollwerk gegen den Islamismus.

Diese Nicht-Einmischungsdoktrin war ein Fehler?


Sie war fatal. Jetzt muss man dringend umsteuern. Die Menschen in Tunesien hoffen, dass die EU hilft, eine freie Öffentlichkeit – Radio, Fernsehen, Zeitungen - als Basis für Demokratie durchzusetzen.

Was kann die EU tun?


Sie sollte ihre Hilfsgelder, die über das Regime gelaufen sind, jetzt umschichten und für den Demokratisierungsprozess zur Verfügung stellen. Die Verhandlungen über eine intensivierte Partnerschaft muss man erst einmal einfrieren und die weitere Entwicklung abwarten. Bei den Wahlen in zwei Monaten treten nach bisherigem Stand nur Parteien von Ben Alis Gnaden an – Blockflöten. Zweckmäßig wäre eine verfassunggebende Versammlung mit wirklichen Oppositionellen und dann in einigen Monaten eine Wahl auf Basis der neuen Verfassung.

Welche Rolle spielt Frankreich?

Ist die EU durch Interessen, etwa im Tourismusgeschäft, gehemmt?


Sie war gehemmt durch ihre Blindheit in den letzten Jahren. Sie ist geprägt vom Zynismus der französischen Außenpolitik und war Steigbügelhalter für Ben Ali. Die EU muss glaubwürdig werden gegenüber den Menschen in Tunesien.

Welche Rolle spielt die alte Kolonialmacht Frankreich?


Die Franzosen haben am längsten die Stillhalte-Politik verfolgt. Viele Intellektuelle, rechte wie linke Politiker, hatten wunderschöne Häuser in Hammamet. Jatzt hat Frankreich immerhin die Gelder des Ex-Präsidenten eingefroren.