Berlin..

Politiker im Bundesrat denken darüber nach, Hartz-IV-Empfängerinnen Verhütungsmittel zu bezahlen. Eine Beratungsorganisation behauptet, dass arme Menschen seit der Sozialreform weniger verhüten als vorher.

Die Hartz-IV-Reformen haben nach Angaben der Beratungsorganisation pro familia dazu geführt, dass bedürftige Frauen drastisch weniger verhüten als zuvor. Die Organisation stützt sich dabei auf Zahlen aus einer Umfrage in Kölner Beratungsstellen. Danach ist die Zahl regelmäßig verhütender Frauen in diesem Milieu seit Einführung der Reformen von 67 Prozent auf nur noch 30 Prozent gesunken.

Der Bundesrat, in dem Unions- und FDP-geführte Länder keine Mehrheit haben, will deshalb, dass die Bundesregierung die Kosten für ärztlich verordnete Verhütungsmittel übernimmt. Die Bundesregierung bestreitet jedoch einen Zusammenhang zwischen finanzieller Bedürftigkeit und dem Risiko ungewollter Schwangerschaft.

Verhütungsmittel kosten - Abtreibung übernimmt der Staat

Die schwarz-gelbe Koalition argumentiert, in den neu berechneten Hartz-IV-Regelsätzen seien die „durchschnittlichen Ausgaben für Verhütungsmittel ungekürzt erfasst“ - und lehnte den Vorstoß ab. Deshalb soll das Thema im Vermittlungsausschuss auf die Tagesordnung kommen.

Die Bundesratsinitiative ging von Brandenburg und Nordrhein-Westfalen aus. „Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Bundesregierung mehr tut, um Hartz-IV-Empfängern die Empfängnisverhütung zu ermöglichen“, sagt Brandenburgs Sozialminister Günter Baaske (SPD) der Nachrichtenagentur dapd. Das Thema ist heikel: Es geht dabei um tausende ungewollter Schwangerschaften und spätere - vom Staat voll bezahlte - Abbrüche.

110.000 Abtreibungen im letzten Jahr

Insgesamt haben im vergangenen Jahr in Deutschland 110.000 Frauen ein Kind abtreiben lassen. In vielen Fällen mussten sie dafür nichts bezahlen. Denn wenn Frauen finanziell bedürftig sind, übernimmt der Staat die Kosten für den Eingriff. Allein das Land Brandenburg bezahlte 2009 für über 4.200 Schwangerschaftsabbrüche, die jeweils 350 bis 400 Euro kosten. Das ist nach Angaben des Sprechers des Landessozialministeriums der Großteil der überhaupt vorgenommenen Abtreibungen.

Weniger großzügig sind die Sozialgesetze dagegen, wenn es darum geht, ungewollte Schwangerschaften zu verhindern - und damit auch Kosten und psychische Belastungen durch spätere Abtreibungen. Seit Einführung der Hartz-Reformen 2004 müssen Frauen, die älter als 20 Jahre sind, Verhütungsmittel aus dem Hartz-IV-Satz bestreiten. Vorher gab es die Antibabypille kostenfrei auf Rezept. Die jetzige Regelung hat nach Angaben von pro familia dazu geführt, dass wegen der Hartz-Gesetze Tausende ungewollte Kinder auf die Welt kamen. Sehr wahrscheinlich ist zudem, dass auch die Zahl der Abtreibungen bei Hartz-IV-Empfängerinnen zugenommen hat.

Kondome keine gute Alternative

Zwar ist die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche in Relation zur Geburtenzahl seit 2004 insgesamt leicht gesunken. Doch ein weitaus stärkerer Rückgang wäre möglich gewesen, meinen neben pro familia auch die Caritas und das Diakonische Werk. „Wenn Verhütungsmittel für Bedürftige wieder kostenfrei wären, würden auch sehr viel mehr Frauen sicherer verhüten“, bestätigt Sozialarbeiterin Dörte Richter. Sie berät für pro familia Schwangere, die über einen Schwangerschaftsabbruch nachdenken. Immer wieder würden die oft verzweifelten Frauen berichten, dass sie sich Antibabypille oder Spirale nicht leisten konnten. Kondome seien keine gute Alternative, da sie von Männern oft abgelehnt würden.

Auch die Freiburger Soziologieprofessorin Cornelia Helfferich plädiert für kostenfreie Verhütung auf Rezept anstatt der finanziellen Eigenverantwortung mit den pauschalen Hartz-Sätzen. „Eine selbst gestaltete Sexualität ist nach dem bisherigen Modell zumindest für manche Frauen nur schwer möglich.“ Denn nach derzeitigem Gesetzesentwurf billigt die Bundesregierung Frauen im Hartz-IV-Bezug lediglich 15,55 Euro monatlich für Gesundheitsleistungen zu - das Wort Verhütung ist in den Berechnungsgrundlagen mit keinem Wort erwähnt. Da monatlich zudem 4,90 Euro für Praxisgebühr, therapeutische Mittel und Geräte abgehen, bleiben den Frauen 10,65 Euro pro Monat für Medikamente. Davon ließe sich die Antibabypille zwar gerade so bezahlen - das Sozialministerium Mecklenburg-Vorpommern kalkuliert die jährlichen Verhütungsmittel-Kosten auf 130 Euro. Doch wenn die Hartz-IV-Empfängerinnen krank werden, müssten sie zum Beispiel bei Kleidung oder Genussmitteln sparen, um das Geld für Aspirin, Nasenspray oder Wärmepflaster aufbringen zu können.

Zweiter Gang nach Karlsruhe denkbar

Der Rechtswissenschaftler Johannes Münder von der TU Berlin bezweifelt jedoch, dass Hartz-IV-Empfängerinnen sich dieses Geld abknapsen könnten. „Dafür sind die Regelsätze zu sehr auf Kante genäht.“ Denn nicht nur bei Verhütungsmitteln knausert die promovierte Ärztin Ursula von der Leyen - auch viele andere Leistungen, etwa für Tabak, Alkohol, Blumen, Gartengeräte oder chemische Reinigung wurden aus dem Regelsatz gestrichen.

Bliebe es bei dem Gesetzestext, der jetzt im Vermittlungsausschuss diskutiert wird, so Münder, könnte ein engagierter Sozialrichter die Hartz-IV-Sätze ein zweites Mal den Karlsruher Verfassungsrichtern vorlegen. Die würden dann aufs Neue die Nachvollziehbarkeit der Regelsätze überprüfen - und den Gesetzgeber laut Münder „höchstwahrscheinlich zu einer erneuten Reform von Hartz IV verdonnern“.

Auch Berlin bekommt ein Problem

Bleibt es bei der bisherigen Verhütungs-Regelung, hat zudem auch Berlin ein Problem. Denn die Hartz-IV-Hauptstadt bezahlt als bislang einziges Bundesland seit 2008 bedürftigen Frauen die Kosten für Verhütungsmittel aus eigener Tasche. 2,6 Millionen Euro lässt das Land sich das laut Sozialsenat jährlich kosten. Die Statistik weist zumindest darauf hin, dass dies erfolgreich gewesen sein könnte. Während beispielsweise in Brandenburg die Abbruchquote seit 2007 um sieben Prozent stieg, sank sie in Berlin um vier Prozent. Dabei darf eigentlich kein Bundesland sozialer zu seinen Hartz-IV-Empfängern sein, als es im Bundesgesetz steht.

Erst im Dezember 2009 hat das Bundessozialgericht entschieden, das Berlin 13 Millionen Euro Schadenersatz an den Bund zahlen muss. Begründung: Berlin hatte Hartz-IV-Empfängern statt der gesetzlich geforderten sechs Monate doppelt so lange Zeit gelassen, in eine günstigere Wohnung zu ziehen. Zugespitzt formuliert heißt das: Hält sich der Bund streng an geltendes Gesetz, könnte er das Land Berlin auffordern, das Verhütungsmittel-Programm einzustellen. Oder er könnte Berliner Frauen den Hartz-IV-Satz um die Kosten für Verhütungsmittel kürzen, bestätigt Rechtswissenschaftler Münder. Wahrscheinliche Folge wäre, dass in Berlin künftig wieder mehr Frauen ungewollt schwanger werden - und anschließend auf Staatskosten abtreiben könnten. (dapd)