Duisburg.

Marina ist das 21. Opfer der Loveparade. Ihre Eltern sind noch immer fassungslos, trauern noch immer. Und sie fragen nach den Verantwortlichen für die Tragödie in Duisburg. Sie fordern Aufklärung.

Die Katze will erst nicht vom Stuhl weichen, dann steht sie doch auf, springt und zieht beleidigt Leine. „Das ist Mila, genannt Schnecke, die hat Marina vor einiger Zeit  einfach mitgebracht. Marina hatte immer so spontane Ideen. Wir hatten ja schon zwei Katzen. Ich hab dann nachgegeben. Wie immer. Jetzt bin ich froh, denn Schnecke erinnert mich jeden Tag an meine Tochter.“ Edith Jakubassa (44) schaut der Katze nach. „Sie hat auch ganz ähnliche Charaktereigenschaften. Dickköpfig, aber eben auch total lieb. Das ganz besonders. Sie müssen wissen, Marina war eine ganz Liebe.“

Am 24. Juli wird Marina, gerade 21 Jahre alt, von ihrem Stiefvater Friedhelm Scharff morgens um 8 Uhr zur Arbeit gebracht. Sie macht in einem Friseursalon eine Ausbildung. Um 14 Uhr hat sie Feierabend und eine Verabredung mit drei Freunden. Wohin es geht, steht an diesem Tag für Hunderttausende junge Menschen fest: die Loveparade in Duisburg. Marina zieht mit den anderen durch den Tunnel zur Rampe und ist genau an der kritischen Stelle, als sich die Lage zuspitzt. Sie gerät ins Gedränge, das zur mörderischen Falle wird. Auch die vier Freunde werden auseinandergerissen, voneinander getrennt. Einer von ihnen, Adrian, dreht sich nach ihr um, sucht sie mit den Augen, und sieht, wie der Kopf von Marina in der Menge plötzlich abtaucht und verschwindet.

Dreimal reanimiert, dann Koma

Die Unglücksstelle der Loveparade. (WAZ FotoPool / Foto: Marc Albers)
Die Unglücksstelle der Loveparade. (WAZ FotoPool / Foto: Marc Albers) © WAZ Foto Pool | WAZ Foto Pool

Edith Jakubassa und Friedhelm Scharff schauen sich mit dem jüngsten Sohn Mike (15) die Loveparade im Fernsehen an. „Irgendwann sagte ein Moderator, dass etwas passiert sei. Zehn Tote. Da wurden wir nervös. Erst recht, weil sie nicht an ihr Handy ging. Dann haben wir Adrian angerufen. Der hat nur gestammelt, dass er nicht wüsste, was genau mit ihr geschehen sei. Und kurz darauf rief das Bethesda-Krankenhaus an. Wir sollten schnell kommen. Sie sei auf Intensiv.“ Marina ist zu diesem Zeitpunkt bereits dreimal von Helfern reanimiert worden. Jetzt liegt sie im Koma.

Die Eltern fahren sofort ins Krankenhaus. „Dort haben sich alle sofort um uns gekümmert. Der Arzt aber machte uns schnell klar, dass ihr Zustand sehr kritisch sei. Fast alle Organe waren ausgefallen. Sie hatte aber ein starkes Herz, das schlug weiter.“ Zwei Tage Hoffen, zwei Tage Verzweiflung. Dann sagt der Professor ihnen am Montag, dass es keine Hoffnung mehr gäbe. Edith Jakubassa will über diesen Moment nicht reden. Die Mutter muss die schwerste Entscheidung treffen, die es für Eltern geben kann. Die Medikamente werden eingestellt, die Maschinen gestoppt. Es dauert noch einen halben Tag, dann stirbt Marina. Das letzte, das 21. Opfer der Loveparade. Edith steckt sich eine Zigarette an: „Diese zwei schrecklichen Tage hatten auch was Gutes. Wir konnten uns von ihr verabschieden. Die anderen Eltern konnten nicht mal das.“

Angehörigen-Treffen helfen

Die Wochen danach sind nur Trauer. Hilfe gibt es schon. Vor allem von der Staatskanzlei. Über die Notfall-Seelsorge werden später Angehörigen-Treffen organisiert. Edith tut das gut: „Wir sitzen da mit 20, 30 Leuten im Kreis, sogar aus Italien kommt eine Mutter und dann reden wir über alles. Es ist heilsam, mit Menschen zu sprechen, die Ähnliches erfahren mussten.“

Und dann ist da noch die „Frau Kraft“, die Ministerpräsidentin. „Die hab ich auch bei der Trauerfeier getroffen, wir haben uns ganz spontan in den Arm genommen, als wenn wir uns schon lange kennen würden. Total schön. Aber sie hat ja auch einen Sohn auf der Loveparade gehabt und diese Angst kennengelernt. Sie hat auch gesagt, dass sie keine Ruhe geben wird, bis das Geschehen aufgeklärt ist.“

Der Ruf nach Gerechtigkeit

NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft spendete Marinas Eltern Trost. (Foto: ddp)
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft spendete Marinas Eltern Trost. (Foto: ddp) © ddp | ddp

Um diese Aufklärung geht es den Eltern ganz besonders. „Das Geschehen darf nicht totgeschwiegen werden. Da muss auch von der Presse weiter nachgefragt werden, wer trägt die Schuld? Wer übernimmt Verantwortung?“

Edith hofft auch auf ein Gerichtsurteil. „Ich will Gerechtigkeit. Es geht mir nicht so sehr um Personen. Es geht mir um diese Selbstüberschätzung, mit der die damals gesagt haben, wir kriegen das hin, wo doch jeder sehen konnte, dass es kein passender Veranstaltungsort war. Das muss geklärt werden. Es darf nicht sein, dass ein Menschenleben nichts mehr zählt. Dass es immer nur um Knete geht… Ich brauche ein Urteil, um Frieden zu finden.“

Trost hat Edith in ihrem Glauben gefunden. Der Pfarrer der Gemeinde hat ihr mit Gesprächen geholfen. „Ich bekam Antworten, ich bekam Hilfe. Ich glaube an Gott. Es war so vorgesehen, sonst wäre Marina noch unter uns. Niemand weiß, wie lang sein Lebensweg ist, der meiner Tochter war nur 21 Jahre lang. Der Liebe Gott hat es so gewollt.“

Arbeit und Haushalt lenken von Trauer ab

Edith hat ihre ganz persönliche Art der Trauerarbeit entwickelt. „Ich gehe nach meinem Bauchgefühl. Und ich mache es so, wie es Marina wohl gefallen würde. Ich habe ihr Zimmer nach vier Wochen leergeräumt, auch weil ihr kleiner Bruder dort einziehen konnte, er hatte kein eigenes Zimmer zuvor. Natürlich habe ich einiges von ihrer Kleidung behalten. Wir hatten dieselbe Größe. Jetzt habe ich ein wunderschönes Gefühl, wenn ich ihre Sachen trage. Sie ist dann bei mir. Auf den Friedhof an ihr Grab gehe ich aber zum Beispiel nicht oft und nicht gerne. Dort wird der Verlust wieder zu real. Das schaffe ich noch nicht.“

Eine Prüfung sind auch manchmal Alltagsgespräche. „Eine neue Arbeitskollegin fragt dich, wie viele Kinder hast du. Ich sage dann drei. Und denke, hoffentlich fragt sie jetzt nicht nach. Oder eine erzählt, dass ihre Tochter jetzt die Lehre fertig hat oder auszieht, da muss ich schlucken. Wir haben uns aber entschlossen, auch weiterhin von drei Kindern zu reden. Es stimmt doch auch irgendwie. Ich stürze mich viel in den Alltag. Die Arbeit, der Haushalt. Das lenkt mich ab. Denn man kann nicht immer daran denken. Man braucht Pausen.“

„Sie liebte Weihnachten“

Weihnachten wird keine Pause sein. Es wird für die Familie ein beklemmendes Fest. „Einen Tannenbaum wird es nicht geben. Marina hat ihn immer mit viel Liebe geschmückt. Sie hat das ganze Fest total für uns geplant. Sie liebte Weihnachten. Am liebsten so wie in Amerika. Mit vielen Leuchten und Lichtern, mit grellen Farben. Sie hat auch für uns gekocht. Wenn wir dann aus der Christmette kamen… Natürlich werden wir Weihnachten feiern. Schon wegen Mike und seinem erwachsenen Bruder. Aber es wird anders sein.“

Am Anfang hat sie die Trauer manchmal übermannt. „Es gab Momente, in denen ich dachte, da oben wäre es jetzt auch für mich schöner. Aber dann war mir doch schnell klar, Marina hätte mich gleich wieder runtergeschickt. Mama, dich wird man wohl überhaupt nicht los….“ Edith lächelt. „Ich hab ja gesagt. Sie war eine ganz Liebe.“