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Generalsekretär Christian Lindner gilt als Hoffnungsträger der FDP. Im Interview erklärt der Wuppertaler warum er die Ideologie der absoluten Datenfreiheit als Liberaler nicht teilt und die rot-grüne Schulpolitik für schädlich hält.
Die Wikileaks-Affäre beschädigt auch die FDP. Haben Sie etwas falsch gemacht?
Lindner: Es kann nicht falsch sein, einem Mitarbeiter zu vertrauen. Alle Parteien pflegen internationale Kontakte und es sind keine Staatsgeheimnisse verraten worden. Hätte sich der Mitarbeiter unmittelbar gemeldet, wäre manche Dramatik unterblieben. Aber aus diesem Vertrauensbruch müssen wir Konsequenzen ziehen.
Welche?
Lindner: Das Arbeitsverhältnis wurde einvernehmlich gelöst.
Wie denken Sie als Liberaler über Wikileaks? Müssen Sie nicht dankbar sein für so viel Informationsfreiheit, oder muss es noch Geheimnisse geben?
Lindner: Jeder braucht einen geschützten Bereich. Auch der Staat. Wikileaks beschert uns immerhin die Erkenntnis, wie wichtig Daten-Sparsamkeit ist. Zum Beispiel bei der Vorratsdatenspeicherung fehlt da zu vielen die Sensibilität. Nun kann jeder sehen, was passieren kann, wenn zentral Daten gesammelt werden.
Die Ideologie hinter Wikileaks ist die von der völligen Transparenz unter Staaten. Claudia Roth hat das verteidigt.
Lindner: Das erscheint mir naiv und gefährlich. Jedes Unternehmen, jede Familie, jeder Staat braucht einen Kernbereich der offenen Aussprache. Solches Wissen darf nicht öffentlich werden. Was lösen diese Indiskretionen jenseits der Tratschgeschichten aus Deutschland im Nahen Osten, im Arabischen Raum, in Asien aus? Sie fördern gewiss kein Vertrauen zwischen den Staaten.
Ist diese Position nicht in Zeiten von Facebook überaltert?
Lindner: Ich bin gegen Zensur, aber für Regeln des Datenschutzes und für verantwortliches Handeln im Internet. Da man sich aber fraglos nie vor Indiskretion sicher sein kann, sollten sensible Dokumente nicht tausendfach zugänglich sein. Bestimmte Formulierungen der Amerikaner sind zudem auch für den internen Dienstgebrauch unpassend.
Für einen Richtungswechsel in der Einwanderungspolitik
Wie weit sind FDP und Union beim Thema Zuzug von Fachkräften auseinander?
Lindner: Mit der CDU gibt es viele Gemeinsamkeiten, die CSU hat größere Bedenken. Aber bei der Wehrpflicht haben wir gesehen, dass die CSU sich von einer Position getrennt hat, die zuerst wie in Stein gemeißelt schien. Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hat ja erklärt, wie viele tausend Ingenieursstellen sogar in der Krise unbesetzt blieben. In Boomjahren wird das noch dramatischer werden, der demographische Wandel kommt dazu. Bei allem Bemühen um Weiterqualifikation werden nur aus wenigen Langzeitarbeitslosen Spitzeningenieure.
Brauchen wir einen Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik?
Lindner: Ja, zweifelsohne. Wir brauchen eine gesteuerte Zuwanderung, die es erlaubt, dass wir in einer alternden Gesellschaft produktiv bleiben. Deutschland muss für die talentiertesten Menschen das attraktivste Land der Welt werden. Das Potenzial haben wir. Lassen wir es doch nicht zu, dass diese Talente vor allem in die USA gehen.
Hat Angela Merkel nicht Recht, wenn sie sagt: Multikulti ist tot?.
Lindner: Vielfalt ist kein Nachteil. Ich plädiere für ein republikanisches Integrationsleitbild. Manche Politiker reden von Leitkultur und vom christlich-jüdischen Erbe. Diesem Erbe haben wir auch viel zu verdanken, aber für die Zukunft brauchen wir andere Leitbilder. Es kommt nicht darauf an, woher jemand kommt, sondern darauf, wohin er will und dass er sich an unsere Regeln hält. Wir müssen offen sein für Menschen, egal, welches religiöse Bekenntnis sie haben.
Bildung befördert Integration
Also keine Angst vor Muslimen?
Lindner: Natürlich nicht. Jeder soll seine Religion leben, wenn er unser Grundgesetz akzeptiert.
Bürger machen mit Muslimen zuweilen andere Erfahrungen als Spitzenpolitiker. Nun hat der liberale Politiker Frits Bolkestein in den Niederlanden orthodoxen Juden empfohlen, Holland zu verlassen, weil der Staat sie nicht mehr schützen kann.
Lindner: Den Fall kenne ich nicht und kann ihn nicht kommentieren. Für Deutschland sehe ich tatsächlich die Gefahr von Parallelwelten in bestimmten Stadteilen. Dazu darf es nicht kommen. Die Bürger lassen sich diese Alltagsbeobachtungen nicht von Claudia Roth ausreden. Das Mittel dagegen ist aber nicht kulturelle Abschottung, sondern ein starker republikanischer Staat. Er bietet allen Menschen Chancen, aber er hat auch die Autorität, jederzeit seine Regeln durchzusetzen. Übrigens sage ich ganz klar: Tiefreligiöse Menschen, die im Erwerbsleben stehen und gut Deutsch sprechen, sorgen mich nicht. Die haben wir in Niederbayern und im Sauerland auch. Wer einen Arbeitsplatz hat und gebildet ist, der ist in der Regel integriert und denkt nicht radikal. Aber an Bildung und Arbeit mangelt es noch zu vielen Migranten.
Die Pisa-Studie zeigt: viele junge, männliche Migranten sind abgehängt. Wie kann man denen helfen?
Lindner: Wir müssen uns auf die wesentlichen Faktoren für gute Bildung besinnen. Erstens: Eltern stärken und die Qualität der Kitas verbessern, vor allem in den Problem-Stadtteilen. In Großbritannien gibt es Familienzentren in Brennpunktstadtteilen. Die bieten eine moderne Pädagogik und viel sozialarbeiterische Feuerkraft. Dort werden auch Eltern mehr eingebunden als hier. Zweitens: Wir dürfen Lehrer, Erzieher, Sozialarbeiter nicht nur in Sonntagsreden wertschätzen, sondern ihnen die Weiterbildung ermöglichen. Kita-Leitungen beispielsweise sollten ein Studium absolviert haben. Lehrer könnten Freisemester bekommen, um frisches universitäres Wissen zu tanken. Drittens: Mehr Handlungsspielräume für Schulen. Manchmal ist es sinnvoll, auf einen zusätzlichen Erdkundelehrer zu verzichten und dafür zwei Sozialarbeiter einzustellen.
Ist nicht auch der Föderalismus in Bildungsfragen hinderlich?
Lindner: Bund, Länder und Kommunen sollten eine Bildungspartnerschaft schließen. Wenn Bund und Länder einer Meinung sind, dann müssen sie auch gemeinsam Schlüsselprojekte in der Bildung finanzieren können. Wir brauchen diese Zusammenarbeit, denn die Schuldenbremse in den Laendern darf nicht der Strick sein an dem wir die Bildung aufhaengen. Wir brauchen also eine Veränderung des Kooperationsverbotes. Außerdem müssen wir uns die Frage stellen, ob es in der Kultusministerkonferenz weiter das Einstimmigkeitsprinzip geben soll. Derzeit bestimmt dort der langsamste Tanker das Tempo des Konvois. Mehrheitsentscheidungen würden das Tempo in der Bildungspolitik erhöhen.
Warnung vor einem Totalumbau ds Schulsystems
Was halten Sie vom Schulversuch Gemeinschaftsschule in NRW? Ist das die richtige Antwort auf Pisa?
Lindner: Die Gemeinschaftsschule wird als Schulversuch getarnt, aber das Ergebnis hat Frau Löhrmann ja schon festgelegt. Nötig ist eine konkrete Verbesserung des Unterrichts und die flexible Kooperation zwischen Haupt- und Realschulen. Das machen die erfolgreichen PISA-Länder. Der Totalumbau des Schulsystems druch Rot-Grün ist schädlich. Viele Eltern werden nämlich den letzten Euro zusammenkratzen und ihre Kinder in Privatschulen anmelden. Dass die Gemeinschaftsschule nicht breit akzeptiert ist, das haben wir beim Bürgerentscheid in Hamburg gelernt. Die gleichmacherische Politik von Rot-Grün führt in der Praxis zu Desintegration und Spaltung.
In NRW regiert Rot-Grün relativ problemlos. Die Linke wird nicht gegen den Nachtragshaushalt stimmen.
Lindner: SPD, Grüne und Linke erhöhen die Neuverschuldung in NRW um 40 Prozent. Wir reduzieren im Bund um 40 Prozent. Das ist der Unterschied. Frau Kraft verfrühstückt mit diesem Haushalt den Wohlstand unserer Kinder und Enkel aus Gefallsucht der Linkspartei gegenüber. Das ist verantwortungslos.
Beim Blick auf die Grünen müssten Sie doch neidisch werden. Sie liegen in Umfragen bei vier bis fünf Prozent, die Grünen marschieren nach oben. Und sie gelten als die neuen Bürgerlichen.
Lindner: Bürgerlichkeit zeichnet Maß und Mitte aus. Die Grünen sind Meister der Illusionskunst. Sie wollen tief in das persönliche Leben und in die Wirtschaft hineinregieren. Und die Reichensteuer soll ab 52.000 Euro gezahlt werden. Die Mittelschicht braucht aber weder Bevormundung noch Belastung. Die Grünen sind mit der Linkspartei verwandt und damit das trojanische Pferd der Politik.
Die Frage stellte Matthias Korfmann