Essen/Flensburg.

Die Jahresrückblicke des Fernsehens bedienen die vorweihnachtliche „Ich-verzeih-Dir“-Stimmung. Sat.1-Moderator Johannes B. Kerner (45) hatte einen Show-Gast, der längst Abbitte hätte leisten müssen: Loveparade-Veranstalter Rainer Schaller.

Schaller hatte nach der Katastrophe in Duisburg mit 21 Toten lange gezögert, gezaudert, ja taktiert. Bereits im Spätsommer hätte der gebürtige Bamberger im Sat.1-Magazin „Kerner“ auftreten wollen – er zog in letzter Minute zurück.

Jetzt bot ihm der Moderator eine zweite Chance. Es war Schallers vielleicht letzte Gelegenheit, vor großem Publikum Buße zu tun.

Der Berufsbespaßer versuchte bereits vor der Ausstrahlung Punkte zu machen. Die Show „2010 – Der große Jahresrückblick“ war am Mittwochabend in der Halle der Flensburger Handballer vor 4000 Gästen aufgezeichnet worden, und der Event-Manager hatte seine Entschuldigung prompt öffentlich gemacht, um für seinen TV-Auftritt zu werben und auch den Teil des Publikums zu erreichen, der sich nicht für sentimentales Show-Gedöns interessiert.

Auftritt wirkte wie einstudiert

Der Münchner Sender und Kerner hatten ihrerseits allerdings alles daran gesetzt, ein möglichst großes Auditorium zu locken – und setzten die Show nach dem quotenträchtigen Kick Borussia Dortmund gegen Karparty Lviv an.

Kerner hatte es nötig. Der Moderator, teuer eingekaufter Kosten-Posten von Sat.1, erscheint immer noch als ein Felix Magath des Fernsehens: Der langjährige Mainzelmann hat die hohen Erwartungen bisher nicht erfüllt. Der europäische Fußball kommt vor allem deshalb so gut an, weil deutsche Mannschaften mit Herz und Erfolg spielen. Kerners Shows waren bestenfalls guter Durchschnitt, und sein nach ihm benanntes Magazin kommt nur langsam aus dem Tal der Tränen.

Tränen gab es nicht, als Schaller (41) gegen 22 Uhr im schwarzen Trauer-Dress auf der Bühne erschien. Gerunzelte Augenbrauen signalisierten Zerknirschtheit, aber Kerner gab ihm von vorn herein zu verstehen, ihn nicht zu grillen: „Wir können nicht die Frage der Schuld klären; das müssen die Gerichte machen.“ Schaller nahm die Vorlage dankbar an. „Ich möchte mich entschuldigen“, sagte der Event-Veranstalter. Er trage „eine moralische Verantwortung, der ich mich stelle“, fügte der gebürtige Franke hinzu. Dabei wirkte er sehr kontrolliert. Sein Auftritt wirkte wie einstudiert, kalkuliert, um später, vor Gericht, mildernde Umstände geltend machen zu können. Fast flapsig verwies Schaller darauf, dass er, gemeinsam mit der Axa-Versicherung, einen Nothilfe-Fonds über eine Million Euro eingerichtet habe, doch da seien noch „Mittel frei, die da rumliegen“. Und fast pflichtgemäß fügte Schaller hinzu, er stehe Opfern und deren Angehörigen „jederzeit“ zu Gesprächen zur Verfügung.

Oft am Grab der Schwester

Umso mehr machte Mirjana Zafirovski betroffen, die eine Schwester bei der Tragödie im Techno-Tunnel verloren hatte. Ihre Stimme war belegt, zitterte, die junge Frau rang sichtbar um Fassung, denn ihre Schwester, so schien es, war zugleich ihre beste Freundin. Noch heute, fügte Mirjana Zafirovski hinzu, sei sie oft am Grab ihrer Schwester, um mit ihr zu reden.

Von Größe zeugte, dass sie Schaller nicht grollte. Im Gegenteil: Sie hielt dem Techno-Kraten zu gute, dass er vor der Show mit ihr geredet habe, dass er sich persönlich entschuldigt habe – im Gegensatz zur Stadt Duisburg, von der sie immer noch nichts gehört habe.

Und Kerner? Er quälte Schaller einerseits nicht mit bohrenden, womöglich zugespitzten Fragen, und andererseits interviewte er Mirjana Zafirovski und den lange lebensgefährlich verletzten Loveparade-Verletzten Tobias Solga mit pastoraler Anteilnahme. Der Großmeister des unverbindlich netten Kurzgespächs gab sich als Johannes Rau der Fernsehunterhaltung, wollte versöhnen statt spalten.

Dass der gerade noch mitfühlende Herr Kerner eine Rolle spielte, exakt nach Drehbuch, machte er im Handumdrehen klar. Bruchlos schaltete der begnadete Lockerheitsdarsteller um auf lustig. Weiter ging es mit Geplauder, Geplapper, kuriose Alltagsgäste wechselten mit so unvermeidlichen TV-Nervensägen wie Oliver Pocher, Boris Becker und Veronica Ferres, die aus der Endlos-Schleife des TV-Talks offenbar nicht mehr herausfinden. So schnurrte die Betroffenheitsnummer beim Loveparade-Interview zusammen zur Posse, sie war kaum mehr als die kurze besinnliche Ballade auf einer aufgekratzten Party.

Ob Jauch am Sonntag bei RTL mehr zu bieten hat?