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Als neue Dimension in der Berichterstattung bezeichnen Medienexperten die Veröffentlichung von mehr als 250.000 US-Berichten durch Wikileaks. Die Frage der Legalität bleibt umstritten.

Eine solche Menge an teils geheimen Dokumenten wurde noch nie auf einen Schlag veröffentlicht. Mehr als 250.000 von US-Botschaften an das eigene Außenministerium adressierte Berichte stellte die Enthüllungsplattform Wikileaks ins Internet. „Was Professionalität, Brisanz und Umfang betrifft, ist dies eine neue Dimension“, sagte Medienexperte Christoph Neuberger am Montag in einem dapd-Gespräch. Besonders die frühzeitige Kooperation mit Qualitätsmedien wie „Spiegel“ oder „New York Times“ sei ein geschickter Schachzug, wichtig sowohl für die Glaubwürdigkeit als auch für die Reichweite.

Durch ihre Anonymität mache es die Internetplattform Informanten auch leichter, erklärte Neuberger, Professor vom Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Es sei technisch nicht mehr nachvollziehbar, wer etwas veröffentlicht habe. Zudem seien die Macher von Wikileaks auch nicht zu fassen, weil ihr Sitz nicht nachvollziehbar sei und sie so nicht verklagt werden könne. Das erhöhe die Attraktivität für „Whistleblower“ (Hinweisgeber).

Ähnlich äußerte sich Klaus Beck, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Die jüngsten Veröffentlichungen hätten eine neue Qualität. Früher habe man nicht die Möglichkeit gehabt, solch große Mengen an Daten der Presse zur Verfügung zu stellen.

Öffentliches gegen schützenswertes Interesse

Neuberger sagte, wichtig sei, dass Journalisten oder Wissenschaftler die von Wikileaks veröffentlichten Daten in einen Zusammenhang stellten und interpretierten. Dazu habe die Internetplattform neben dem „Spiegel“ und der „Times“ frühzeitig Qualitätsblätter wie den Londoner „Guardian“, die Pariser „Monde“ und die Madrider „Pais“ gewonnen. Selbst wenn nun ein Land erfolgreich gegen die Veröffentlichung klagen würde - es brächte wenig, da die Daten in den anderen Ländern doch publiziert würden.

Für die Frage, ob solche Veröffentlichungen legitim seien, gebe es keine Generalformel, sagte Neuberger. Das alte Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Interesse und anderen schützenswerten Interessen stünden sich auch hier gegenüber. Wenn es um Menschenleben ginge, müssten diese natürlich Vorrang haben. „Jede Veröffentlichung muss eine Einzelfallentscheidung sein, von Dokument zu Dokument“, sagte der Experte. Journalisten müssten hier nach ihrem Berufsethos entscheiden.

Journalisten müssen Quellen einordnen und prüfen

Beck fügte hinzu, häufig seien es nur Schutzbehauptungen von Militärs oder Politikern, dass Soldatenleben durch Veröffentlichungen gefährdet würden. Verantwortlich dafür, dass Soldaten überhaupt beispielsweise in Afghanistan in Gefahr geraten könnten, seien nun ja in erster Linie diejenigen, die sie dorthin geschickt hätten.

Neuberger sagte, es sei auch Aufgabe der Journalisten, die Quelle einzuordnen und zu prüfen. Schließlich handele es sich ja nicht um offizielle Aussagen, sondern inoffizielle Statements und auch um Gerüchte. Ähnlich sei es bei den Stasi-Unterlagen. Beck betonte, Journalisten sollten herausfinden, wer ein Interesse an der Nachrichtengebung haben könnte.

Verschärfte Geheimhaltungsvorschriften

Neuberger sagte, er gehe davon aus, dass die Geheimhaltungsvorschriften veschärft würden. Auch in kleinen Kreisen werde künftig wohl nicht mehr so offen gesprochen.

Als Medienrevolution würden die Wissenschaftler die jüngsten Publikation jedoch nicht bezeichnen. „Im Internet kann man seit Mitte der 90er Jahre schnell und anonym Daten zur Verfügung stellen, das ist eine Sache von Sekunden geworden“, sagte Neuberger. Und Beck fügte hinzu: „Lecks gab es immer wieder, siehe Watergate-Skandal.“ (dapd)