Berlin/Stuttgart. .
Kann es im entgleisten Zwist um das milliardenschwere Bahnhofsprojekt einen Kompromiss geben? Was Konfliktforscher aus Hagen und Berlin über die Schlichtung bei Stuttgart 21 denken
Seit gestern hat er die Streithähne an einem Tisch. Heiner Geißler, der Vermittler im Groß-Konflikt Stuttgart 21. Wie stehen seine Chancen? Kann es im entgleisten Zwist um das milliardenschwere Bahnhofsprojekt überhaupt einen Kompromiss geben, mit dem beide Seiten leben können?
Im Contarini-Institut der Fern-Universität Hagen ist man mit diesen Fragen gut aufgehoben. Die Wissenschaftler, deren Haus nach dem venezianischen Gesandten Contarini benannt ist, der vor 350 Jahren Frankreich und Spanien zum Westfälischen Frieden bewegte, forschen, bundesweit anerkannt, über genau jene Techniken, die in der Schwaben-Metropole gefragt sind: Mediation und Streitschlichtung.
„Verborgene Motive“
Geschäftsführer Stefan Kracht beschreibt den Ist-Zustand aus Forscher-Sicht, will in diesem frühen Stadium aber keine Prognose über Erfolg oder Misserfolg abgeben. „Wir haben es hier mit einem eskalierten Konflikt zu tun, der von beiden Seiten bereits von Gewalt geprägt war.“ Dies und der Umstand, dass die Hintergründe für die „überraschende Eskalation“ nicht klar erkennbar seien, es möglicherweise noch „verborgene Motive“ gebe, mache einen Interessenausgleich so schwierig.
Kracht hält die Herstellung einer „möglichst emotionsfreien Gesprächsatmosphäre“ für notwendig. Die Hitze der Straße dürfe nicht in den Verhandlungssaal vordringen. „Runterkühlen und dann reden“ sei eine gute Devise. Entscheidend: Kann Geißler eine „Schnittmenge“ erzielen zwischen den Bedürfnissen von Befürwortern und Gegnern?
Zur Illustrierung bringt Kracht das in seiner Zunft beliebte Orangen-Beispiel: Zwei Kinder streiten um eine Apfelsine. Wollen beide das Maximum, bleibt’s beim Krach. Gibt sich einer mit dem Saft, der andere mit der Schale zufrieden, „haben wir eine Verhandlungsbasis“. Was ist in Stuttgart 21 „Saft“, was „Schale“? Kracht weiß es nicht, nennt dafür die Rahmenbedingungen, damit Erfolg überhaupt möglich ist: So wenig Erfolgsdruck wie möglich, kein grundlegender Pessimismus, Offenheit in der Diskussion, gleichlautende Unterrichtung der Öffentlichkeit. Und – ganz wichtig: „Die Beteiligten müssen sich gegenseitig als Person akzeptieren.“
Acht Jahre Schlichtung
Selbst dann, sagt der renommierte Berliner Konfliktforscher Prof. Dieter Rucht, stehe Heiner Geißler vor einer „Mission Impossible“. In der Sache gebe es für ihn keinen Spielraum. „Geißler kann allenfalls dazu beitragen, dass mehr Fakten auf den Tisch kommen und für eine Denkpause bei den Konfliktparteien sorgen.“
Dieter Rucht sieht Geißlers Position bereits geschwächt, weil er anfangs vorschnell an die Öffentlichkeit gegangen sei. „Er hätte zunächst mit den Gegnern und Befürwortern getrennt verhandeln und erst einmal die einzelnen Standpunkte schriftlich festhalten sollen.“ Stattdessen hat der 80-jährige CDU-Politiker mit irritierenden Aussagen über einen Baustopp hantiert.
„Geißler ist darum kein Mediator, sondern ein Schlichter. Ein Mediator hält sich mit eigenen Lösungsvorschlägen zurück, bleibt konsequent neutral und gibt den Konflikt an die Streitparteien zurück“, sagt Contarini-Geschäftsführer Kracht. Aus seiner Sicht ist die Gemengelage bei Stuttgart 21 einzigartig und daher nicht vergleichbar mit dem größten und längsten Mediationsverfahren, das es bislang in Deutschland gegeben hat. Ab 1999 wollte eine Gruppe um den heutigen Chef des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in Köln, Johann-Dietrich Wörner, beim Ausbau des Frankfurter Flughafens eine Zuspitzung wie 20 Jahre zuvor bei der Startbahn West verhindern. Acht Jahre lief der Schlichtungsprozess; über den Ausgang gibt es geteilte Ansichten. Allein, der „Krieg“ um die Startbahn-West hat sich nicht wiederholt.
Bürger als Störenfried
Für den Konfliktforscher Stefan Kracht ist eine Lehre aus Stuttgart 21 zu ziehen: Bei der Bürgerbeteiligung sei Deutschland mit seinen „ausgefeilten Planungsinstrumentarien“ und „Schutzrechten“ weltweit führend. Doch würden Bürgereinwände, wenn ein Großprojekt grundsätzlich auf die Schiene gesetzt sei, oft nur noch „automatisiert abgearbeitet“. Der Bürger wird dann von Behörden und Projektträgern als „Störenfried“ wahrgenommen. Kracht: „Man muss darum mit der Einbindung der Bürger noch viel weiter vorne ansetzen, lange bevor ein konkretes Projekt ausgearbeitet ist.“
Für den Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Hans-Peter Keitel, eine Horror-Vorstellung. Keitel empfindet bereits die existierende „starke Öffentlichkeitsbeteiligung“ als behindernd. Sie verlängere die Genehmigungsverfahren derart, dass bei deren Abschluss der technische Fortschritt die Bedingungen bereits grundlegend verändert habe, sagt Keitel. Für Heiner Geißler kein ermutigendes Zeichen.