Berlin. .

Der Streit über die Integrationspolitik rückt näher an Bundeskanzlerin Angela Merkel heran. SPD-Chef Sigmar Gabriel wirft ihr vor, die Bürger „für dumm zu verkaufen“. Renate Künast von den Grünen ist sprachlos.

Im Streit über die Integrationspolitik rückt zunehmend Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ins Visier der Opposition. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel warf Merkel am Mittwoch vor, die Bürger „für dumm zu verkaufen“. Grund sei Merkels „Angst vor dem rechten Flügel ihrer Partei und vor dem rechten Rand der deutschen Wählerschaft“. Grünen-Fraktionschefin Renate Künast sagte, es mache sie sprachlos, wie die Kanzlerin den CSU-Vorsitzenden Horst Seehofer nach dessen umstrittenen Zuwanderungs-Äußerungen verteidige. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe wies die Attacken zurück.

Gabriel schrieb in einem Gastbeitrag für den Berliner „Tagesspiegel“ über Merkel: „Von der früheren Physikerin, die sich an Realitäten orientiert und an die Kraft des Arguments glaubt, ist nicht mehr viel übrig.“ Statt den „dumpfen Sprüchen“ von Seehofer unmissverständlich zu begegnen, versuche die Kanzlerin, „die Öffentlichkeit über die tatsächliche Situation am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt ebenso zu täuschen wie über den drohenden Fachkräftemangel“.

Merkel stellt sich vor Seehofer

Künast mahnte, Parteien müssten an das Gemeinwohl denken. Es gehe nicht darum, Ängste zu schüren, sondern um die Gestaltung der Zukunft. Die Grünen-Fraktionschefin kritisierte: „Das tut Angela Merkel nicht, weil sie lieber dem rechten Rand Genüge tun will. Wenn auch mit weniger scharfen Worten als Seehofer, geht sie auf den Luftraum über den Stammtischen los.“

Seehofer hatte in einem Interview gesagt: „Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun.“ Daraus ziehe er „auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen“. Merkel nahm den CSU-Chef am Montag vor Kritik in Schutz: „Das war eine Bemerkung, die auf die Fachkräfte zugeschnitten ist.“ Man müsse vorrangig schauen, „dass die Fachkräfte aus der Vielzahl von arbeitsfähigen, aber leider langzeitarbeitslosen Menschen in Deutschland gewonnen werden müssen“.

Fachkräftemangel steigt drastisch

Nach Ansicht von Gabriel hätte jedoch Merkels Antwort an Seehofer „lauten müssen: Für Deutschland ist bei der Zuwanderung wichtig, was einer kann - und nicht, was einer glaubt.“ Denn es fehlten „heute schon Fachkräfte auf fast allen Ebenen“. Dieser Fachkräftemangel steige drastisch an.

Der SPD-Chef fügte hinzu: „Wenn Frau Merkel behauptet, den Fachkräftemangel der deutschen Wirtschaft durch die Qualifikation von Langzeitarbeitslosen bekämpfen zu wollen, dann soll sie umgehend die Kürzung der aktiven Arbeitsmarktpolitik um zwei Milliarden Euro pro Jahr zurücknehmen.“ Wer Langzeitarbeitslosen die Chance zur Qualifizierung nehme und gleichzeitig sage, sie könnten die fehlenden Fachkräfte ersetzen, „verhöhnt die Arbeitslosen ebenso wie die händeringend nach Fachkräften suchenden Handwerksmeister, Dienstleister und Unternehmer“.

„Eiertanz“ der SPD

Gabriel kritisierte ferner, es gebe eine „massive Fehl- und Unterqualifikation vieler junger Menschen“ in Deutschland. Er warnte: „Jede Zuwanderungspolitik wird diskreditiert und schafft sogar den Boden für neue Ausländerfeindlichkeit, die nicht durch eine echte Bildungsoffensive für diese Jugendlichen begleitet wird.“

Gröhe entgegnete, die Attacken von Gabriel seien „Ausdruck purer Hilf- und Ideenlosigkeit“. Der CDU-Generalsekretär fügte hinzu: „Die SPD führt in der Integrationspolitik, wie bei vielen anderen Themen, seit Wochen - eigentlich Jahren - einen Eiertanz auf.“ Dabei schwanke sie „zwischen Multi-Kulti-Träumen und Pseudo-Hardliner-Sprüchen des Herrn Gabriel“. Gröhe mahnte: „Die SPD muss endlich klare Konzepte statt inhaltsleerer Sprüche liefern.“

CSU-Landesgruppenchef übt Schulterschluss mit Seehofer

Der Berliner CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich sagte, Seehofers Äußerungen seien „bewusst falsch interpretiert“ worden. Der bayerische Ministerpräsident habe lediglich auf die „Prioritätenliste“ beim Umgang mit dem Fachkräftemangel hingewiesen. Demzufolge müsse man „erst die eigenen Leute in Deutschland und Europa“ bei der Besetzung von freien Arbeitsplätzen berücksichtigen. In „andere Gegenden der Welt“ sollte man in diesem Zusammenhang erst dann schauen, „wenn das nicht reicht“. Friedrich betonte: „Wie man sich darüber aufregen kann, ist mir völlig schleierhaft.“

Auch die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), hatte sich zunächst „schockiert“ über die Worte des CSU-Chefs geäußert. Am Mittwoch betonte sie jedoch, Seehofer habe klargestellt, „dass es ihm lediglich um die Frage der Fachkräfte geht“. Damit seien die „Irritationen ausgeräumt“.

Böhmer fügte hinzu: „Aber was angesichts von Fachkräftemangel und demografischer Entwicklung in unserem Land Not tut, ist zweifellos, dass wir klären, welche Zuwanderung wir brauchen.“ Qualifikation, Sprachkenntnisse und Integrationsfähigkeit seien dabei entscheidende Kriterien. „Die hängen nicht an dem Herkunftsland und auch nicht an der Religion“, betonte die CDU-Politikerin.

FDP: CSU setzt auf das falsche Pferd

Der Vorsitzende des Arbeitskreises Innen- und Rechtspolitik der FDP-Bundestagsfraktion, Hartfrid Wolff, sagte: „Die CSU setzt auf das falsche Pferd: Es geht nicht darum, Menschen aus fremden Kulturen zu diskreditieren.“ Vielmehr müsse „der Fachkräftemangel in Deutschland konstruktiv angegangen werden“. Dringend erforderlich sei „eine gesteuerte Zuwanderung von Hochqualifizierten und Fachkräften anhand von klaren, transparenten und gewichteten Kriterien“.

Scharfe Kritik an Seehofer kam vom Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek. Er sagte: „Seit der Sarrazin-Debatte wird hier ein Überbietungswettbewerb populistischer Phrasen geführt, für den wir uns als Deutsche eigentlich schämen sollten.“ Das Thema verlange Sachlichkeit. Mazyek mahnte, qualifizierte Einwanderung sei „für unser Land existenziell wichtig“.

Sachsen bereitet Bundesratsinitiative zum Fachkräfte-Zuzug vor

Die Regierung von Sachsen macht sich für einen Abbau der Hürden zum Zuzug qualifizierter Fachkräfte stark. Wie das Innenministerium in Dresden ankündigte, bereitet der Freistaat derzeit eine entsprechende Bundesratsinitiative vor. Vorgesehen ist demnach, die Einkommensgrenze für eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung von derzeit 66.000 auf 40.000 Euro herabzusetzen.

Außerdem sollen Unternehmensgründungen leichter möglich sein. Derzeit muss ein Ausländer bei einer Unternehmensgründung eine Investitionssumme von mindestens 250.000 Euro aufbringen und fünf Arbeitsplätze schaffen. Die geplante Bundesratsinitiative zielt nach Ministeriumsangaben auch darauf ab, ausländischen Studenten den Übergang ins Berufsleben in Deutschland zu erleichtern. (dapd)