Sucht man nach einem Schlüsselbegriff für die Einstellung von Anneliese Brost, dann findet man ihn wohl am ehesten in dem Wort: Verantwortung. WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz nimmt Abschied.

Monatelang hatten wir entwickelt, die alte, dichte, schwarze, schwere Zeitung aufgeräumt, ansehnlicher gemacht, neue Bildschnitte, neue Überschriften, sogar einen neuen Kopf, wenig bis nichts hatten wir ausgelassen; und dann stand ich eines späten Vormittags vor der roten Tür mit der Nummer 200 und dem Namen Anneliese Brost darunter. Die alte Dame, Matriarchin, Gründerin, Hüterin des großen Erbes, sollte Ja sagen. Weil man aber mit zunehmendem Alter gemeinhin konservativer wird, war die Sorge berechtigt: Zieht sie mit?

„Ich hatte schon Sorge, Sie krempeln die ganze Zeitung um. Jetzt bin ich beruhigt.“ Es dauerte eine Weile bis klar war, dass Anneliese Brost es nicht ironisch gemeint hatte, sondern mit allem Ernst sprach. Zeitungen müssen und werden sich ändern, und die neue Seite eins – „die gefällt mir“.

Sucht man nach einem Schlüsselbegriff für ihre Einstellung, dann findet man ihn wohl am ehesten in dem Wort: Verantwortung. Eine schwierige Tugend. Eine Last sogar, je mehr, desto ernster man sie nimmt. Verantwortung kann man nur in einem sehr oberflächlichen Sinn übergeben, man muss sie schon übernehmen. Ein Willensakt, der das Leben nicht in jedem Fall erleichtert.

Grassierendes Entertainment, das war ihr zuwider

Gespräche mit Anneliese Brost waren selten Kaffeekränzchen, auch nicht, wenn man dabei aus dem großen Wohnzimmerfenster in den gepflegten Garten blicken konnte. Tatsächlich sorgte sie sich, wusste um die Gefährdung der Zeitung in diesen Zeiten, konnte eigentlich überhaupt nicht verstehen, weshalb weniger junge Menschen Zeitung lesen. Grassierendes Entertainment, das war ihr zuwider. Die Abschaffung der reinen Nachricht durch die Nazis hatte sie geprägt, die Verhunzung von Nachrichten durch Banalisierung heutzutage lehnte sie ab, vehement, bisweilen lautstark. Sie konnte darüber böse werden; aus gesellschaftspolitischer Verantwortung. Demokratie verträgt sich eben schlecht mit der Leichtigkeit des Seins als Lebensmotto.

Die Zeitung gibt es auch morgen noch. Da war sie zuversichtlich. Aber nicht mehr als bloße Nachrichtenvermittlerin wie nach dem Krieg, als die Verleger noch jeden technisch möglichen Millimeter mit kleinen Schlagzeilen und sehr vielen Buchstaben füllten. Man hungerte nach Nachrichten, und das Papier war rationiert. Heute, wo Nachrichten an jeder Straßenecke verschenkt werden, kann das kein Modell mehr sein. Was denn dann? Hintergrund, Analyse, Einordnung. Orientierung geben, hat sie in ihrem letzten großen Interview, das zugleich das erste war, angemahnt. Sie war froh, dass die Redaktion einen roten Faden hatte, verlegerisch: Eine publizistische Strategie.

Preis für gute Arbeitsplätze

Und wir, die Redakteure? Leidenschaftlich sollten wir sein. „Alle waren bis in die Nächte begeistert bei der Sache“, hatte sie erzählt über die Anfangszeit, die ersten Jahre nach 1948. Von dieser Haltung, das wusste sie und forderte es ein, müssten Redakteure mehr aufbringen als andere. Das sei gewissermaßen der Preis für gute Arbeitsplätze, die die Firma zur Verfügung stelle. Dass wir viele, wie es beschwichtigend heißt, abgebaut haben, hat sie geschmerzt. „Aber wir müssen an das Ganze denken.“ Anneliese Brost konnte sehr entschlossen sein, aus: Verantwortung.

Anneliese Brost war eine zuversichtliche Frau. Aber ihr Optimismus kam nicht krachledern daher, nicht marketingmäßig. Wer so viel erlebt und gesehen und gehört hat, dem bleibt nur eine skeptische Sicht auf die Dinge. Aber am Ende muss man sich dann doch entscheiden: Ist das Glas halb voll oder halb leer? Frau Brost hat sich klar entschieden: „Wir haben gute Leute in den Redaktionen und im Verlag, die schaffen das schon.“ Wir wollen es versuchen.

Wir Redakteure sind Anneliese Brost dankbar. Es gibt Eigentümer, die mischen sich ein. Rufen an, wenn ihnen Kommentare nicht passen. Werfen Redakteure raus, wenn deren Meinung allzu sehr abweicht. Ihr hat ganz gewiss nicht alles gefallen, was in der Zeitung geschrieben stand. Aber sie hat uns machen lassen. Aber wir sollten uns Mühe machen, bitte schön. Wenn wir Meinungen in einem Pro und Contra streitig stellten, mochte sie es besonders gern. Eigentlich ist es seltsam, wenn man sich für Nichteinmischung bedankt. Zu einer solchen Größe muss man aber erst einmal finden, wenn einem der halbe Laden gehört.