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Der Regisseur Christoph Schlingensief ist tot. Er erlag am Samstag im Alter von 49 Jahren seinem Krebsleiden. Ein Nachruf von WAZ-Redakteurin Gudrun Norbisrath.

Ich glaube es nicht, kann es nicht glauben. Christoph Schlingensief hat aufgehört zu leben, und die Welt ist ärmer. Er hatte so ein starkes Gespür dafür, was wichtig ist, was man tun muss, als Beobachter und als Handelnder. Christoph war wichtig. Jetzt ist er tot. Dabei wollte er doch noch 35 Mal Weihnachten feiern.

Er liebte die Kunst und die Welt, und er war ein wütender Liebender. Er wollte, dass die Welt richtiger wäre und vertraute darauf, dass die Kunst ihr dabei helfen könne. Er tat alles, wirklich alles, um die Menschen zu erreichen mit seiner sperrigen, sinnlichen Kunst, die ausgestopfte Hasen, nackte Hintern in grüner Farbe, Container für Asylbewerber und ausführliche Onanie als Gegenstand von Bühnenvideos nicht scheute. Er hasste es, wenn man ihn einen Provokateur nannte, was eine Zeit lang jeder tat; als ich ihn darauf ansprach bei unserem ersten Interview, glaubte ich für einen Moment, er würde aufspringen und den Tisch umwerfen. Es explodierte aber nur seine Sprache, die rasen konnte und dabei hochkonzentriert blieb. Später war ich klüger und er ruhiger.

Schlingensief war maßlos in seinem Anspruch an sich und andere

Christoph Schlingensief kam aus Oberhausen, von hier aus stürmte er in die Welt, um sie wach zu schreien. Was allerdings ein Unterschied ist zur Provokation; er liegt im moralischen Anspruch. Er war kein Spieler, bei ihm war noch die verrückteste Szene todernst und aufklärerisch. Er war ein Großer; ein Narr, der lachend die Wahrheit brüllte. Liebevoll intellektuell, maßlos in seinem Anspruch an sich und andere.

Die Kirche hatte ihn geprägt, als Ministrant lernte er, der Institution mit Misstrauen zu begegnen. Aber er wandte sich nicht ab von Gott, nie. Er stritt mit ihm wie mit anderen, aber er nahm fest an, dass er existiere.

Er war Filmenthusiast von Anfang an. Als 12-Jähriger experimentierte er mit Schmalfilmen, und sagte später, er mache pubertäre Filme. Er meinte das positiv. Er litt darunter, dass sein Vater, der Apotheker, mit alldem wenig anfangen konnte; noch bei seiner Arbeit für die Ruhr Triennale, dem inszenierten Krebstagebuch „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir”, sagte er den erschütternden Satz: „Ich wollte immer, dass meine Eltern sehen, dass aus mir ein guter Junge geworden ist.”

Anfang der 80er Jahre produzierte er als Assistent von Werner Nekes aus dem benachbarten Mülheim Kurzfilme. Dann kam „Tunguska – die Kisten sind da.” Das war der erste große Auftritt, ein ästhetisches und gesellschaftliches Manifest jenseits aller Normen und Filmtheorien, neurotisch, absurd, komisch, expressiv und exzentrisch suchte er eigene Bilder, eigene Mythen und Symbole für die Menschen, für die Gesellschaft, für die Welt. Natürlich provozierte er.

In den 90ern begann er mit dem Theater

Es ging dann ziemlich schnell mit dem Bekannt- und Beschimpftwerden. Vor allem „Das deutsche Kettensägenmassaker” traf auf Unverständnis, also Hass. Schlingensief interpretierte die deutsche Einheit als kannibalistischen Akt, darauf wurde ihm ein Mangel an Reflexion unterstellt.

In den 90er Jahren fing er an, Theater zu machen. Zuerst bei seinem Freund Frank Castorf an der Berliner Volksbühne; auch so ein Berserker der Wahrheit. Dann kam die Documenta X und die Aktion „Mein Filz, mein Fett, mein Hase”, eine Hommage an Joseph Beuys. Das Plakat „Tötet Helmut Kohl” wurde zum Anlass, Schlingensief festzunehmen. 1998 zog er mit seiner Partei „Chance 2000” in den Bundestagswahlkampf und rief die vier Millionen Arbeitslosen auf, in den Wolfgangsee zu springen, damit er über die Ufer trete und dem amtierenden und zu erwartenden Kanzler ein Zeichen gebe. Die Idee fand zu wenig Freunde, als dass ein Happening daraus hätte werden können. Dann kam Bayreuth.

Man wüsste gern, welcher Hafer Wolfgang Wagner gestochen hat, den sensiblen Irrwisch als Regisseur des „Parsifal” zu verpflichten. Schlingensief arbeitete wie besessen, beschallte zwei Monate vor der Premiere die Recklinghäuser Innenstadt mit einer „Wagner-Ralley”, verärgerte Sänger, vertrug sich mit Katharina Wagner. Und die Kritik lobte überraschend einmütig das bilderstarke Werk, das er auf die Bühne geschleudert hatte.

Diagnose Lungenkrebs

Er hat das geliebt, die Oper und ihre magische Kraft, und er war einer, der das Unmögliche zusammendachte. Nach „Parsifal” ging er nach Manaus im brasilianischen Regenwald und inszenierte dort den „Fliegenden Holländer”, sein letztes Projekt war ein Opernhaus für Afrika. Aber noch in Manaus kam dieser trockene Husten, und wenig später war die Diagnose Lungenkrebs.

Sobald es ihm besser ging, arbeitete er wieder. Im Gorkitheater Armin Petraschs lernte er die Bühnenbildnerin Aino Laberenz kennen; sie half ihm, die Krankheit und das Leben damit zu tragen. Schwer gezeichnet vom Krebs, sagte er, er werde sie heiraten, und wenn es nur für wenige Minuten wäre. Es wurde fast ein Jahr daraus.

Christoph hatte noch so viel vor, er war noch in der Krankheit so voller Kraft. Zu denken, dass er tot ist: unmöglich.