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Gelten Menschen mit den gleichen Beschwerden in Wesel als schwerbehindert, in Duisburg aber nicht? Ob und wie schwer jemand behindert ist, hängt auch von seinem Wohnort ab – davon ist zumindest der Sozialmediziner Dieter Schneider überzeugt.

Er hat die erste Studie darüber vorgelegt, wie sich die Anerkennung von Schwerbehinderungen nach Auflösung der zentralen Versorgungsämter in NRW 2008 entwickelt hat. Seitdem entscheiden die Städte und Kreise über die Anträge. Die Auswertung der Daten des Statistischen Landesamts, die der WAZ vorliegt, lässt für Schneider nur einen Schluss zu: „Die Auflösung der Versorgungsämter führt zu einer ungleichen Behandlung behinderter Menschen in NRW.”

Verbände und Beamte hatten davor gewarnt, als das Landesversorgungsamt in Münster und seine elf Zweigstellen zum 31. Dezember 2007 aufgelöst wurden. Eigentlich ist das nicht möglich, es gelten bundesweit identische Kriterien. Und doch ist genau das geschehen, meint Schneider, leitender Gutachter des Bochumer Instituts GIS, das die Folgen von Sozialrechtsänderungen untersucht. Die Kriterien seien zwar gleich, würden aber „unterschiedlich interpretiert”.

Größter Rückgang in Duisburg

Auffällig ist, dass einige finanzschwache Kommunen seit 2008 deutlich weniger Schwerbehinderungen an­er­kannt haben als vor der Verwaltungsreform. So steht Duisburg mit einem Rückgang von 6,5 Prozent ganz oben auf Schneiders Rotstift-Liste, gefolgt von Herne (- 3,7). Dortmund hat 1,3 Prozent weniger Anträge anerkannt, Essen und Bochum je rund ein Prozent. Dagegen wurden etwa in Düsseldorf (2,6 Prozent), Wesel (6,6 Prozent) und Viersen (7,8 Prozent) deutlich mehr Schwerbehinderungen an­er­kannt als vor 2008.

Aus Sicht der GIS-Statistiker sind bereits diese einstelligen Prozentbewegungen „dramatisch” - gemessen daran, dass es in den Jahren vor Auflösung der Versorgungsämter so gut wie keine Veränderungen gab.

Der Vorwurf, aus Spargründen rigider mit benachteiligten Menschen umzugehen, ist hart. Die Stadt Duisburg weist ihn weit von sich. „Es gibt keine Weisung von mir, besonders restriktiv zu sein. Im Zweifelsfall wird eher für den Betroffenen entschieden”, sagt Reinhard Luderer, Leiter des Duisburger Sozialamts. „Es sind die gleichen Mitarbeiter, die gleichen Verfahren und die gleichen Gutachter. Die Bewertungsstrukturen haben sich nicht geändert”, betont Luderer.

„Nicht einmal untersucht worden“

Rechtsbeistand Jürgen Brandt aus Meerbusch macht andere Erfahrungen. Er vertritt einige Mandanten aus Duisburg und stellt fest: „Ich habe seit Auflösung der Versorgungsämter etwa 20 Prozent mehr Fälle aus diesem Bereich.” Der Experte für Schwerbehindertenrecht be­treut derzeit rund 40 Klienten im Streit mit Sozialämtern.

Einer dieser Klienten war Dirk Thiele, seit zwölf Jahren Diabetiker. Mit 40 Prozent Behindertengrad lag er wie so viele knapp unter der wichtigen 50-Prozent-Grenze, ab der man als schwerbehindert gilt. „Mit den Jahren kamen Bluthochdruck, psychische Beschwerden und ein Halswirbel-Syndrom dazu”, erzählt Thiele. Also beantragte er eine Höherstufung, zumal das Bundessozialgericht 2008 die Anerkennung von Diabetes als Schwerbehinderung erleichtert hatte. Thiele wunderte sich leicht über die erste Ablehnung, etwas mehr über die zweite, und sagte sich irgendwann: „Das lass ich mir nicht bieten.”

Was ihn am meisten wurmt: „Ich bin in der ganzen Zeit nicht einmal von einem Arzt der Stadt Duisburg untersucht worden. Die haben nur Akten gewälzt.” Mit Brandts Hilfe klagte er gegen die Stadt Duisburg - und gewann. Die 50 Prozent bringen einige Vorteile: Fünf Tage mehr Urlaub im Jahr und die Möglichkeit, zwei Jahre früher ohne Abschläge in Rente gehen zu können, sind die wichtigsten.

Akten oft unauffindbar

Laut Anwalt Brandt dauert die Bearbeitung der Anträge auch deutlich länger als früher: „Oft sind die alten Akten verschwunden, zudem fehlen bei den Kommunen Ärzte zur Begutachtung.” Gutachter Schneider hat ähnliche Entwicklungen bereits in Baden-Württemberg festgestellt, das ebenfalls seine Versorgungsämter aufgelöst hat. Er fordert eine einheitliche Bewertung und sieht durch die Zahlen belegt, „dass bei der Bewertung von Behinderungen willkürlich entschieden wird”.