Essen/Berlin..

Knapp ein Jahr nach dem Amoklauf von Winnenden werfen Schüler, Polizisten und Gewerkschafter der Landesregierung schwere Versäumnisse vor. Die Polizeigewerkschaft DPolG fordert regelmäßige Amoktrainings. Das NRW-Schulministerium lehnt das ab.

Ein nach Winnenden von Schulministerin Barabara Sommer (CDU) einberufener Expertenkreis habe kein Ergebnis vorzuweisen. „Wir trafen uns einmal mit 50 Leuten und einmal in kleinerer Runde, seitdem ist nichts passiert”, sagt Johannes Struzek (Landes-Schülervertretung) zur WAZ. Ähnlich äußert sich Renate Boese von der Lehrergewerkschaft GEW: „Jede Schule bräuchte Krisenteams, aber die gibt es nur sporadisch.” Rainer Wendt (Deutsche Polizeigewerkschaft) sagt: „Das Ministerium stiehlt sich aus der Verantwortung.” Er fordert für alle Schulen regelmäßige Amoktrainings. Ministerin Sommer weist die Vorwürfe zurück.

Polizeigewerkschaft fordert „Amoktrainings“

LSV-Sprecher Struzek kontert: „Im Kreis Steinfurt sind nun für 57 000 Schüler nicht mehr 1,5, sondern 2,5 Psychologen zuständig.“ Die Landes-Schülervertretung erkennt aus ihrer Sicht ein grundsätzliches Problem, wie die Politik mit dem Thema Amokläufe umgeht: „Es gibt Notfallordner, es wird darüber geredet, wie man auf einen Amoklauf reagieren müsste. Aber keiner denkt darüber nach, warum Schüler solche Taten begehen. Es gibt Gründe dafür. Das hat etwas mit hohem Leistungsdruck zu tun, mit Überforderung und mit fehlenden Ansprechpartnern“, sagt Johannes Struzek.

Ralf Dolgner, Sprecher des Schulministeriums, sagte, die Ergenisse aus dem Expertenkreis würden „gerade zusammen getragen“. Ob es ein weiteres Treffen gebe, sei ungewiss. Dolgner erinnert daran, dass heute in NRW jede Schule einen „Notfallordner“ habe, mit Handlungsempfehlungen bei Amokläufen.

Das reiche bei weitem nicht, erklärte der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, der WAZ. Nach der Bluttat eines ehemaligen Schülers an einer Berufsschule in Ludwigshafen hat Wendt, verbindliche „Amoktrainings“ an allen Schulen gefordert. Diese sollen helfen, dass Lehrer und Schüler wissen, wie sie sich im Notfall verhalten müssen.

In diesem Zusammenhang hat Wendt auch NRW-Schulministerin Barbara Sommer (CDU) angegriffen. `Das Ministerium stiehlt sich aus der Verantwortung“, sagte der DPoIG-Vorsitzende dieser Zeitung. „Es ist eine typische Politikerkrankheit: Da werden Richtlinien geschrieben und schon denken Politiker, dass sie damit die Realität geändert haben“, sagte Wendt weiter.

Politiker fordern strengere Sicherheitsvorkehrungen an Schulen

Dessen Kritik zielt auf den 177 Seiten starken Notfallplan, den die Landesregierung 2007 als Reaktion auf den Amoklauf in Emsdetten an Schulen verteilte. In dem Ordner stehen unter anderem Regeln, wie sich Lehrer und Schüler im Falle eines Amoklaufs verhalten sollen. „Es bringt nichts, die Notfallpläne an die Schulen lediglich auszuteilen - sie müssen auch eingeübt werden“, sagte Wendt und forderte an allen Lehranstalten „Amoktrainings“ mindestens zweimal im Jahr. „Außerdem braucht es eine Beweispflicht gegenüber den Schulaufsichtsbehörden.“ Mit anderen Worten: Die Schulen sollen aus Wendts Sicht künftig nachweisen müssen, dass sie auch wirklich ein „Amoktraining“ durchgeführt haben.

Das NRW-Schulministerium erteilte dem verbindlichen Notfallkurs am Freitag eine Absage. „Wenn man das einübt, besteht die Gefahr, dass auch potenzielle Amokläufer genau wissen, wie sie auf unsere Maßnahmen reagieren können“, sagte Ministeriumssprecher Ralf Dolgner. „Dann haben sie einen Vorteil. Den dürfen wir uns nicht nehmen lassen.“

Unterdessen haben sich am Freitag Politiker parteiübergreifend gegen strengere Sicherheitsvorkehrungen an deutschen Schulen ausgesprochen. Von Bodyscannern und Sicherheitsschleusen hält die FDP-Landesgruppenchefin, Gisela Piltz, nichts. „Durch stärkere Sicherheitsvorkehrungen würden wir die Schulen zu Hochsicherheitstrakten machen“, sagte Piltz dieser Zeitung. „Ich glaube nicht, dass die Gesellschaft das will.“ Zugleich gab Piltz der Forderung Wendts Recht: „Für die Lehrer wäre es gut, wenn es verbindliche Amoktrainings an allen Schulen gäbe.“ Im Kampf gegen weitere Amokläufe an Schulen forderte Piltz mehr Schulpsychologen und Sozialarbeiter. „Sie können dazu beitragen, dass Jugendliche nicht auf die schiefe Bahn geraten.“

„Ich habe Achtung vor den Politikern, die jetzt nicht mit populistischen Vorschlägen vorpreschen“, sagte dagegen der stellvertretende Fraktionschef der Union, Michael Kretschmer (CDU) und warnte vor Illusionen. Eine hundertprozentige Sicherheit an Schulen könne man nicht schaffen. Auch die jugendpolitische Sprecherin der SPD, Caren Marks, lehnt den Einsatz von Sicherheitspersonal oder Bodyscannern in Schulen ab. „Es wäre falsch, nach einem derartig brutalen Mord übereilt scheinbar naheliegende Konsequenzen zu ziehen“, sagte Marks und sprach sich stattdessen für Anti-Gewalt-Trainings an Schulen, Schulsozialarbeiter und -psychologen sowie spezifische Lehrerfortbildungen aus.