Duisburg. .

Eine Stadt der Superlative: Im saudi-arabischen Mekka drängen sich die Menschen wie an keinem anderen Ort der Welt. Ohne modernste Verkehrsforschung wären die Menschenmassen zur Zeit der muslimischen Pilgerfahrt kaum zu bewältigen. Ein Duisburger Forscher plant mit.

Auf dem Bildschirm des Laptops geht es zu wie in einem Bienenstock. Kleine Pünktchen erscheinen in Rot- und Grüntönen im Inneren einer grob skizzierten Spirale. Geschäftig wuseln sie durch das Gebilde, surren durch die Kurvenstruktur und verschwinden schließlich vom Bildschirm.

Verkehrsforschung für Pilgerströme

Die Umrundung der Kaaba in der Simulation. Grafik: TraffGo GmbH
Die Umrundung der Kaaba in der Simulation. Grafik: TraffGo GmbH © WNM

Die kleine Animation bildet eine weltbekannte Szene nach: Die Umrundung der Kaaba im saudi-arabischen Mekka, der heiligsten Stätte des Islam. Die agilen Pünktchen stehen für ein dichtgedrängtes Meer weißgekleideter Menschen, so dicht, dass es sich in der wirklichen Welt mit Schneckengeschwindigkeit voran schiebt. Aus islamischer Sicht ist die Mekka-Fahrt oder Hadsch eine religiöse Aufgabe, die jeder Moslem, Geld und Gesundheit vorausgesetzt, einmal im Leben erfüllen sollte. Aus dem Blickwinkel des Verkehrsforschers ist Mekka mit seinen gut drei Millionen Pilgern jedes Jahr vor allem eine ungeheure planerische Herausforderung.

Hubert Klüpfel aus Duisburg gehört zu einem handverlesenen Stab ausländischer Experten, der für die saudischen Behörden Konzepte zur Lenkung dieser Menschenmassen erarbeitet. Klüpfel, von Haus aus Physiker, hat sich auf Verkehrsforschung spezialisiert und erstellt unter anderem Evakuierungskonzepte für Gebäude und große Fähren. Seine Firma TraffGo, ein Ableger der Universität Duisburg-Essen, hat Konzepte ebenso für den Weltjugendtag 2005 bei Köln entwickelt wie für den Aachener Hauptbahnhof. Unter der Ägide des 35-Jährigen sind Pläne entstanden für das Dortmunder Westfalenstadion oder eine norwegische Konzerthalle – und derzeit eben für die Neugestaltung des Zentrums von Mekka.

Die Reise ihres Lebens

Hubert Klüpfel erarbeitet Verkehrskonzepte für die Innenstadt von Mekka. Foto: privat
Hubert Klüpfel erarbeitet Verkehrskonzepte für die Innenstadt von Mekka. Foto: privat

In einem Radius von einem Kilometer um die al-Haram Moschee wird das Zentrum Mekkas derzeit zur Großbaustelle. Klüpfel vergleicht die Situation mit Berlin nach der Wende. 30.000 saudische Beamte sind allein mit der Organisation der Pilgerströme befasst, Berater wie Klüpfel erarbeiten Konzepte zur Lenkung der Besucherströme während auf den leeren Flächen stetig neue Hotelkomplexe aus dem Boden wachsen. 3,8 Millionen Pilger sind 2007 nach Mekka gekommen, bei der letzten Wallfahrt Ende November waren es 2,7 Millionen. Für die nächsten Jahre rechnet man wieder mit wachsenden Zahlen, bis zum Jahr 2040 wollen die saudischen Behörden nach Klüpfels Angaben für den Andrang von 6 Millionen Pilgern gerüstet sein.

Für viele der Gläubigen ist es die Reise ihres Lebens, ein Ereignis, auf das sie jahrelang gespart haben. Nach islamischem Glauben ist die Hadsch die einzige Möglichkeit, jemals einen Zustand völliger Sündenfreiheit zu erlangen, erläutert Dr. Magdi Omar vom Institut für Arabistik und Islamwissenschaft der Uni Münster die Bedeutung der Reise. „Da kann man nicht einfach alles sperren, wenn es voll ist und sagen: Komm doch nächstes Jahr wieder“, sagt Hubert Klüpfel. Nur Muslimen ist der Zugang nach Mekka gestattet und auch deren Zahl begrenzen die saudischen Behörden durch die Zahl der Visa, die sie jedes Jahr vergeben. Das Land unterhält ein eigenes Hadsch-Ministerium.

Pragmatische Theologie

Ein halber Tag am Berg Arafat? Nicht unbedingt.
Ein halber Tag am Berg Arafat? Nicht unbedingt. © imago stock&people

Zwar reisen das ganze Jahr Muslime nach Mekka, doch für die bedeutsame „große Pilgerfahrt“ stehen jährlich nur fünf Tage zur Verfügung, bestimmt durch den Mondkalender. Innerhalb dieser Spanne gibt es einen vorgeschriebenen Ablauf für Pflicht- und Zusatzriten, allerdings keine präzisen zeitlichen Vorgaben. „Um die fünfzehn Stunden Verzug“ gebe es zwischen verschiedenen Gruppen, erklärt Dr. Magdi Omar vom Institut für Islamwissenschaften der Uni Münster.

Und neben verkehrsplanerischen gibt es auch theologische Bemühungen, den Ablauf der Pilgerreise an die Erfordernisse der modernen Massenhadsch anzupassen. So hat der Rektor der Kairoer Al-Azhar-Universität eine Fatwa, eine religiöse Richtlinie, erlassen, wonach eine Stunde Aufenthalt am Berg Arafat ausreichend sei – traditionell verweilen die Pilger nach dem Vorbild des Religionsstifters Mohammed vom Mittag bis zum Sonnenuntergang dort. Und die Ziegen, Rinder oder Kamele, die beim Abschluss der Fahrt ihre Leben als Opfertiere aushauchen, werden längst tief gefroren und als Lebensmittel exportiert.

Gut orientiert und sehr geduldig

Bus-Stau auf dem Weg nach Mekka.
Bus-Stau auf dem Weg nach Mekka. © imago stock&people

Die Koordinaten der Spiritualität indes sind seid Jahrhunderten unverändert: Der Berg Arafat 25 Kilometer von Mekka. Mina vor den Toren der Stadt, wo die Leere gähnt, das aber zur Hadsch zum Zeltplatz für Übernachtungsgäste wird. Die al-Haram Moschee mit ihrem Heiligtum Kaaba, das es mehrmals zu umrunden gilt, die Säulen von Jamarat. „Der entscheidende Punkt ist der Ort“, sagt Dr. Omar. Wie sich die Stadt verändert, wie sie baulich gestaltet wird, das ist in theologischer Hinsicht unwichtig.

Aber nicht unter Sicherheitsaspekten. Verkehrsforscher Klüpfel schickt seine flimmernden Pünktchen durch Bebauungspläne, entwirft mögliche Wegführungen und berechnet das Menschenvolumen, das, je nach Wegführung, pro Stunde passieren kann. Sechs Parameter bestimmen das Verhalten der Punkte in seinen Modellen, darunter Faktoren wie Laufgeschwindigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit. Je nach simulierter Situation werden diese Parameter unterschiedlich stark gewichtet. Die Pilger-Pünktchen zeichnen sich vor allem durch zwei Eigenschaften aus: ein hohes Maß an Orientierung – jeder weiß schließlich genau, was wann zu tun ist im Laufe der nächsten Tage. Und viel Geduld.

Umgebauter Unfallschwerpunkt

Pilger bei der Hadsch.
Pilger bei der Hadsch. © imago stock&people

Die brauchen auch die wirklichen Pilger. Bei der Umrundung der Kaaba, dem sogenannten Tawaf, kommen bis zu zehn Menschen auf einem Quadratmeter zu stehen. „Schauen Sie einmal auf die maximale Personenzahl im Aufzug – und dann verdreifachen Sie das“, verdeutlicht Klüpfel die Enge. In solch einem Gedränge ist es kaum noch möglich, die eigene Richtung zu bestimmen. Und wenn der Strom ins Stocken gerät, vielleicht Menschen stürzen, dann kann das fatale Folgen haben: Mehr als 1.400 Menschen kamen 1990 beim Gedränge in einem Fußgängertunnel ums Leben, vier Jahre später wurden 270 Pilger an den Jamarat-Säulen zu Tode getrampelt. Die tragische Liste ließe sich fortsetzen bis ins Jahr 2004, als wiederum 251 Menschen an gleicher Stelle starben.

Die Säulen von Jamarat, die, von den Pilgern mit Steinen beworfen, den Teufel symbolisieren, waren lange ein Unfallschwerpunkt. Heute fliegen die Kiesel aus mehreren Stockwerken eines umgebenden Gebäudes, der sogenannten Jamarat-Brücke. Und sie fliegen nicht mehr auf Säulen sondern gegen Wände – so werden Steinwurf-Verletzungen von Pilgern auf der gegenüberliegenden Seite vermieden. Entworfen haben das Gebäude wiederum Mitarbeiter deutscher Universitäten, Hubert Klüpfel hat ein abschließendes Gutachten erstellt. Einbahnstraßen und die Trennung verschiedener Verkehrsteilnehmer, das sind seiner Einschätzung nach die Grundlagen erfolgreicher Verkehrsplanung an einem Ort wie Mekka. Nirgends sonst auf der Welt kommen so viele Menschen so gedrängt zusammen.

Religiöse Fettnäpfchen

Beim „Tawaf“ kann es für die Pilger eng werden.
Beim „Tawaf“ kann es für die Pilger eng werden. © imago stock&people

Die Statistik lässt auf einen Erfolg der Baumaßnahmen hoffen: „In den letzten vier Jahren wurde kein einziger Unfall oder ein gefährliches Menschengedränge registriert“, teilt Dr. Salim al-Bosta mit, der als Verkehrsexperte der deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ) für die saudische Regierung an der Planung und Ausführung großer Hadsch-Projekte beteiligt ist.

Kulturelle Fettnäpfchen gilt es trotzdem zu vermeiden. Die Terminierung der Hadsch auf fünf Tage beispielsweise stehe einfach nicht in Frage, betont Klüpfel. Und dreht den Spieß um: „Wir würden uns ja auch nicht sagen lassen ‚Legt doch Weihnachten und Ostern zusammen, dann spart ihr euch einen Feiertag’.“ So funktioniert Religion eben nicht. Der Forscher betont: „Wir machen nur Vorschläge, entwerfen Szenarien – die Entscheidungen über das, was umgesetzt wird, treffen allein die saudischen Behörden.“ Mitte November ist es jedenfalls wieder soweit: Dann werden erneut mehr als zwei Millionen Muslime nach Mekka fluten.