Bayreuth. .

Am Sonntag gilt es, Abschied zu nehmen von den Bayreuther Festspielen. Bald setzten die ersten Takte der „Götterdämmerung“ ein. Lars von der Gönna verabschiedet sich auch von seinen Nachbarn, ob geliebt oder ungeliebt.

Die Länge der Opern Richard Wagners hat eine gewisse Scheinriesenhaftigkeit zur Folge. Kommt man nach Bayreuth, glaubt man, alle Zeit der Welt mit ihnen verbringen zu können. Mehr noch: Man glaubt, das hier ende nie und nimmer, weil man diese komponierten Ewigkeiten namens Walküre, Siegfried und Götterdämmerung alle noch vor sich hat.

Die Wahrheit gleicht aber viel eher einem vorweihnachtlichen Plätzchenteller. Man kann eine ganze Weile etwas wegnehmen, ohne dass er nur eine Spur kleiner geworden zu sein scheint. Dann aber - es ist vielleicht nur ein kleines Kipferl - ist er schlagartig ein Krater, durchlöchert, zersetzt, ganz offensichtlich zur Neige gehend.

Das Prinzip Bayreuth hilft einem sehr lange Zeit, die Idee zu verdrängen, dies könnte irgendwann einmal vorbei sein. Aber am Sonntag ist es soweit. In wenigen Stunden setzten die ersten Takte der „Götterdämmerung“ ein und Takt für Takt sagt eine akustische Sanduhr: Time is running out.

Abschied von den Nachbarn

Man nimmt Abschied, auch von seinen Nachbarn. Ob sie geliebt oder ungeliebt waren, spielt wie in jeder guten Oper keine Rolle.

Es sind 2010 - der hirnverbrannte Baulöwe, der die Festspiel-Karten einem Autohaus seines Vertrauens zu verdanken hat und das Geschehen mit einiger Sachkenntnis begleitet („Hier müsste mal von Grund auf renoviert werden!“). - der Feinschmecker, der Abend für Abend eine ganze Reihe mit Besetzungsanekdoten der letzten 34 Jahre gequält hat („Nein, was war das für eine Hoffnung - und wie schlimm abgesungen diese Hochdramatische..., ich fasse es immer noch nicht! Haben Sie eigentlich noch erlebt, wie die Jones...“) das Ehepaar, das die erfrischende Offenheit besitzt, zu erzählen, warum sie trotz kompletter Ring-Karten in diesem Jahr ihre „Götterdämmerung“ verschenken („Wissen’s, mei Mann is immer nur in der Götterdämmerung ganz mulmig, letztes Jahr hat er sogar a Ohnmacht kriegt und da hamma gdacht, des muss ja a ned sein!“

Die Frau mit dem vielen Schmuck, den vielen Sonnenbank-Aufenthalten und der Angewohnheit, zu den Orchestervorspielen noch eine SMS an die Lieben zu versenden. Wütenden Traditionalisten maßregelte sie wehrhaft: „Das stört doch weniger als das Geplärre da vorn!“

Aber vor allem der junge Engländer, der zu „Siegfried“ erst seinen Zug verpasst hatte, infolgedessen nicht einmal mehr den Restkartenstand pünktlich erreichte und die Tapferkeit besaß, den ersten und zweiten Aufzug einfach nur draußen vor dem Festspielhaus zu sitzen und mit seiner kleinen Papptafel („Suche Karte!“) an das Gute im Wagnerianer zu glauben. Das Prinzip Hoffnung lebt: Jemand, auf dessen Ermüdung der Brite heimlich gehofft hatte, schenkte ihm seinen Platz für den dritten Aufzug. Er kam durch Tür VI, sah in den Raum und hatte Tränen in den Augen. Auch solche gibt es in Bayreuth. Ihretwegen kommt man wieder.

Leitmotiv des Tages: „Ihrem Ende eilen sie zu, die so stark in Bestehen sich wähnen.“ (Richard Wagner, Das Rheingold, 4. Szene)