Schwelm. .
So richtig gezielt steuert noch kaum einer auf das Turbo-Abi zu. Schwierig ist und wird es für die ersten Absolventen: Sie brauchen Nachhilfe, sollten besser nicht sitzenbleiben und überschwemmen dann den Arbeitsmarkt.
In drei Jahren wird der erste Turbo-Abi-Jahrgang den Abschluss machen. Doch der Weg dahin wird noch schwierig: Die Prüfungen müssen die Zwölftklässler dann genauso absolvieren können wie die Dreizehner, Sitzenbleiben ist für alle Beteiligten zu kompliziert. Immer mehr sind deswegen auf Nachhilfe angewiesen. Und dann bleibt da immer noch der große Ansturm auf den Arbeitsmarkt, wenn Zwölfer und Dreizehner gleichzeitig mit der Schule fertig werden.
Schon jetzt häufen sich die Befürchtungen, es könnte nach den Ferien, wenn beide Stufen erstmals zusammengeführt werden, zu wenig Lehrer, Räume und Bücher geben. Die Fusion von zwei Jahrgängen in der Oberstufe wegen des Turbo-Abiturs sei nicht ausreichend vorbereitet, kritisieren etwa die Sozialdemokraten.
Und schon jetzt sind Tutorien, Lerngruppen und gezielte Nachhilfe gefragter denn je. Schulen sollen vorbeugen, damit niemand so schnell sitzenbleibt.
Doch die Sorgen machen sich vor allem die Schüler, die den ersten Turbo-Abi-Jahrgang bilden. Die jetzigen Neunt- und Zehntklässler werden gemeinsam die Reifeprüfung ablegen. Und einigen graut schon jetzt davor. Lisa K. (15 Jahre, 9. Klasse) und Anna Z. (16 Jahre, 10. Klasse) sind zwei von ihnen. Gemeinsam besuchen sie das Gymnasium in Schwelm. Und sie erzählen, wie sie ihre Bildungschancen einschätzen.
Lisa ist in der 9. Klasse, Anna in der 10. Wer von Euch beiden ist denn zurzeit schlauer?
Lisa: Anna.
Anna: (lacht) Naja, mein Bruder ist auch so alt wie Lisa. Da hab ich täglich den direkten Vergleich. In Englisch ist er genauso weit wie ich vor einem Jahr, hat auch die gleichen Bücher. Da bin ich ein Jahr vorweg. Französisch haben wir zeitgleich angefangen, da sind wir gleich weit. In Mathematik zum Beispiel haben die ein ganz anderes Buch und einen anderen Lehrplan. Man kann es also nicht vergleichen. In manchen Bereichen sind sie weiter, weil sie Inhalte weggelassen haben. Den Differenzierungskurs Englisch-Geschichte haben Lisa und ich zusammen angefangen. Es gibt auch Mathematik-Informatik, Französisch-Geschichte oder Geschichte-Erdkunde.
Und wie funktioniert das im Unterricht? Hat die 10 da einen Lernvorsprung?
Lisa: Naja, von Geschichte zum Beispiel habe ich fast gar keine Ahnung, weil wir Geschichte immer nur halbjährig hatten. Und ihr hattet viel Geschichte und das regelmäßig, Anna. Deswegen wissen die Zehner viel mehr in Geschichte und sind uns ein Jahr voraus.
Anna: In Informatik merkt man auch zum Beispiel, dass wir ein Jahr mehr Praxis in Mathe haben.
Das heißt, es gibt Wissensunterschiede. Kann sich Annas Klasse dann ausruhen, während Lisas Stufe viel Stoff nachholen muss?
Lisa: Ja, wir müssen noch Zusatzkurse machen. Jetzt grade sind es elf Fächer und mindestens fünf Klausuren.
Anna: Naja, und wir machen halt so viele Kurse, wie es vorher immer war. Das ist auch nicht wenig. Die jetzige neunte Stufe hat nachmittags Unterricht und wir nicht. Ich hab zurzeit 27 Stunden auf dem Stundenplan.
Lisa: Und ich hab 35 Stunden. Dafür nicht so viele Hausaufgaben. Die dürfen wir nicht bekommen, wenn wir nachmittags Unterricht haben. Damit auch nachmittags noch Zeit bleibt für andere Sachen.
Bleibt denn noch genug Zeit für Hobbys?
Lisa: Naja, montags zum Cheerleading und donnerstags zum Arbeiten. Aber das ist total knapp. Viel kann man da nicht machen.
Anna: Ich mach ziemlich viel neben der Schule. Ich hab eigentlich keine Hausaufgaben auf, also vielleicht mal eine halbe Stunde. Also spiel ich im Orchester, bin in der Spanisch-AG, fechte im Verein. Dann spiel ich noch Klavier, Trompete, Geige. Also: Es bleibt genug Zeit.
Ist es für Dich denn oft ziemlich stressig?
Lisa: Naja, ich war in letzter Zeit häufiger krank und hatte eine Magenentzündung, seit wir den Nachmittagsunterricht haben. Das kommt vom Stress. Man sitzt ja viel länger in der Schule als vorher. Das ist ja auch für den Körper anstrengend.
Sind die Bedingungen an der Schule denn wenigstens so, dass es gut funktioniert mit dem Nachmittagsunterricht?
Lisa: Naja, das ist im Bau. Die Mensa ist nicht fertig, deswegen essen wir Fast-Food, also Billig-Pizza oder Brötchen vom Bäcker. Oder man bringt etwas von Zuhause mit. Aber das ist ja dann kalt.
Anne: Die Schule war ja gar nicht darauf ausgerichtet, dass dort nachmittags Unterricht gegeben wird. Da musste das ja plötzlich umgestellt werden.
Wäre es denn besser, das komplette Bildungssystem wieder umzustrukturieren? Die SPD fordert ja zum Beispiel im Moment Gemeinschaftsschulen.
Anna: Ich denke, unsere beiden Jahrgänge sind jetzt etwas Besonderes, weil wir gleichzeitig Abi machen. Wir kommen zusammen auf den Arbeitsmarkt und an die Universitäten. Aber wenn unsere Jahrgänge durch sind, dann geht’s wohl anschließend besser.
Lisa: Genau, in ein paar Jahren wird es gehen, weil sie dann den Lehrplan umgestellt haben. Dann werden halt ein paar Inhalte gekürzt.
Den direkten Vergleich hat man also nur bei Euch. Hast Du, Lisa, Angst davor, dass Universitäten oder Arbeitgeber lieber Abiturienten mit 13 Jahren Schulzeit nehmen?
Lisa: Es wollen ja gar nicht alle an die Uni, und viele wollen ja auch an Unis weiter weg. Vielleicht verteilt sich das dann.
Anna: Naja, aber andere Bundesländer haben die Umstellung ja auch. Hamburg zum Beispiel hat jetzt schon diesen Umbruch.
Lisa: Insgesamt denke ich aber schon, dass die Note zählt. Manche Studiengänge haben ja einen Numerus clausus. Es ist halt nur für uns schwieriger, eine gute Note zu erreichen. Aber ich habe auch gehört, dass die Schulleiter und Lehrer nicht wollen, dass die Durchschnittsnote schlecht ist, nach ihrer Reform – dass sie probieren, uns ein bisschen hochzupushen.
Anna: Wobei die Klausuren und Noten auch von extern kontrolliert werden. Die Antworten, die auf Klausurfragen erwartet werden, sind haarklein vorgegeben, mit Punktzahl und allem.
Lisa: Doof ist das außerdem für Real- und Hauptschüler. Denen schnappen wir ja dann auch die Jobs und Ausbildungsplätze weg.
Anna: Wobei viele Arbeitgeber auch gerne Gesamt- oder Hauptschüler als Auszubildende nehmen, weil die schon Handwerk in der Schule gelernt haben.
Und wie schlagen sich Eure Stufen zurzeit?
Lisa: Naja, bei mir kommen viele im Unterricht gar nicht mehr mit und sind sitzengeblieben. Wir waren mal 30 Schüler in der Klasse, jetzt sind wir nur noch 25.
Anna: Bei meinem Bruder auch. Bei mir sind hin und wieder welche gegangen, aber es geht. Nur: Bei mir darf ja keiner sitzen bleiben. Sonst landen sie in der Stufe darunter – und müssen trotzdem mit mir Abitur machen. Deswegen müssen alle mitgezogen werden.
Was heißt das?
Anna: Es werden zweimal die Woche Förderkurse angeboten. Wenn man in einem Fach schlecht steht, kann man da freiwillig hingehen. Die Kurse werden von Schülern gegeben. Das gilt aber für alle Schüler, auch für Lisas Stufe. Und manchmal wird dann, wenn man eigentlich 4 steht, eine 3 gegeben, damit man die 5 in einem anderen Fach noch ausgleichen kann. Dann muss man vielleicht noch zusätzlich ein Referat halten oder so. Da wird dann getrickst.
Lisa: Naja. Und meine Stufe kann halt sitzenbleiben. Ehrlich gesagt wäre es vielleicht gar nicht so schlecht sitzenzubleiben. Auf jeden Fall wäre es kein Drama. Dann wäre ich zumindest nicht in diesem doppelten Jahrgang, der auf den Bildungsmarkt kommt. Wobei: Das ist eigentlich der einzige Vorteil des Turbo-Abiturs: Wir dürfen ein Jahr weniger zur Schule gehen. (lacht)