Paris. Eine geringe Lebenserwartung, hohe Arbeitslosigkeit und dauerhafte politische Unruhen. Haiti, das Land, das gerade von einem Erdbeben erschüttert worden ist, ist ein bitterarmer Staat in Lateinamerika. Naturkatastrophen sind für die acht Millionen Einwohner nichts Ungewöhnliches.

Haiti ist bitterarm, es gilt mit weitem Abstand als das Armenhaus Lateinamerikas: sieben von zehn Haitianern sind arbeitslos, achtzig Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze. Wer in Lohn und Brot steht, muss mit nicht einmal hundert Euro im Monat auskommen. Fast die Hälfte der über acht Millionen Einwohner kann nicht lesen und schreiben. Und ihre geringe Lebenserwartung - unmittelbare Folge von Unterernährung und katastrophaler medizinischer Versorgung - liegt bei gerade einmal 61 Jahren.

Erstes unabhängiges Land in Lateinamerika

Rücksichtslose Ausbeutung hat eine schrecklich lange Tradition auf der Insel, die, begünstigt durch das tropische Klima, Zuckerrohr, Bananen, Kaffee und Mango zu seinen Exportschlagern zählt. Als erste pressten gierige Kolonialherren, zunächst spanische, dann französische, die Insel gnadenlos aus. Damals genoss Haiti noch den schillernden Ruf, die reichste unter den zahllosen Perlen der Karibik zu sein. Und noch einen Rekord hat der Inselstaat aufzubieten. Als erstes Land Südamerikas sprengte es 1804, just zu der Zeit, als der strahlende Kaiser Napoléon Bonaparte im Zenit seiner Macht stand, die kolonialen Ketten und rief die Unabhängigkeit aus. Mehr noch: Haiti, zu 95 Prozent bewohnt von Nachfahren afrikanischer Sklaven, war damals die erste schwarze Republik der Welt.

Nun ja, auch das Haiti von heute kann von sich behaupten, eine Republik zu sein. Doch dieses hohe Wort ringt nicht nur den Haitianern ein müdes Lächeln ab. Denn tatsächlich haben seit jeher skrupellose und korrupte Machthaber in der Hauptstadt Port-au-Prince ihre brutalen Fäuste an der Kehle des wehrlosen Volkes. Keiner symbolisiert diese verbrecherische Cliquenwirtschaft so sehr wie der berüchtigte Jean Claude "Baby Doc" Duvalier, der es sich 1971 mit gerade einmal 19 Jahren auf jenem Diktatorensessel gemütlich machte, den ihm sein Vater Francois "Papa Doc" Duvalier vererbt hatte.

"Zerfallener Staat"

Haiti könnte sich eigentlich gut einreihen in die prosperierende Familie der Touristenparadiese ringsherum, die wie die "Dom Rep", Kuba, Mexiko, Martinique und Guadeloupe Millionen Europäer und Amerikaner anlocken. Doch stattdessen ist der Insel ein scheinbar unentrinnbares Schicksal beschieden, nämlich das, eine Insel der Heimsuchung zu sein. Die acht Millionen wissen bald schon nicht mehr, was eine schlimmere Geißel ist: die ständigen Naturkatastrophen oder die fortwährende politische Vergewaltigungen. Weil Staatsstreiche, Ausnahmezustand, Schießereien an der Tagesordnung sind, gilt Haiti als "zerfallener Staat".

Zwar sind tausende Blauhelmsoldaten die einzigen Garanten für Sicherheit und Ordnung. Doch selbst sie konnten 2008 nicht verhindern, dass die Hungerproteste gegen erhöhte Preise für Reis und Mais zu schweren Unruhen mit vielen Todesopfern führten.