Bergisch Gladbach. Drei Contergan-Geschädigte hungerstreiken für mehr Entschädigung. Mit 47 Jahren fühlen sich ihre Körper wie 67 an und sind abhängig von teurer Pflege.

Sie ist seine Mutter, 79 Jahre inzwischen. Damals, als er geboren wurde, war es für sie „ein Schock!” Dabei war er, Stephan, ein Wunschkind. Nach acht Jahren Ehe der ersehnte Sohn. Das Kind jedoch war mit einer unterentwickelten rechten Hand zur Welt gekommen, ihm fehlte ein linker Unterarmknochen, und dort, wo der linke Daumen sein sollte, war ihm ein fünfter Finger gewachsen. An diesem Morgen, 47 Jahre später, sitzt Helga Nuding mit ihrem Sohn in diesem Gemeindezentrum, ziemlich aufgeregt, aber auch sehr entschlossen. Sie hungerstreiken. Dafür, dass den Contergan-Geschädigten endlich Gerechtigkeit widerfährt.

Norbert Schweyen, Stephan Nuding mit seiner Mutter und Gihan Higasi (v.l.) sind in der evangelischen St. Andreas-Gemeinde in den Hungerstreik getreten. (Foto: WAZ, Matthias Graben)
Norbert Schweyen, Stephan Nuding mit seiner Mutter und Gihan Higasi (v.l.) sind in der evangelischen St. Andreas-Gemeinde in den Hungerstreik getreten. (Foto: WAZ, Matthias Graben) © WAZ

Was sie wollen, klingt auf den ersten Blick enorm. Eine Million Euro Schadensersatz für jeden Contergan-Geschädigten, dazu eine monatliche Rente von bis zu 3270 Euro. Und sie wollen hungern, bis man ihnen entgegenkommt. Stephan Nuding, Gihan Higasi, Norbert Schweyen und Stephan Nudings Mutter Helga eben. „Wir wollen ein Stück Gerechtigkeit für das Drittel Leben, das wir noch vor uns haben”, sagt Norbert Schweyen. Und Stephan Nuding erklärt die Forderungen: „Die tägliche Pflege, die die meisten von uns brauchen, ist eine teure Dienstleistung. Viele benötigen Hilfe für jeden Gang auf die Toilette, unter die Dusche, für jeden Einkauf.”

„Ich bin jetzt auf Hilfe angewiesen”

Als junger Mann habe er sich noch die Zähne geputzt, indem er die Bürste zwischen die Zehen klemmte. Das gehe nun nicht mehr. „Ich bin jetzt auf Hilfe angewiesen”, erzählt Bernhard Quiel, ein Contergan-Geschädigter, der eigens aus Schleswig-Holstein anreiste, um die Gruppe in der evanglischen Andreaskirche in Bergisch Gladbach zu unterstützen. Wie viele andere hat auch Quiel, der ohne Arme geboren wurde, seinem Körper in all den Jahren viel abverlangt. Hat seinen Rücken geschunden und benutzt bis heute die Zähne, um ein Glas Wasser anzuheben und zu trinken. „Wir sind Menschen von 47 Jahren, aber unsere Körper fühlen sich an wie 67”, ergänzt Stephan Nuding.

Der Contergan-Skandal. Was Ende der 50er mit mehreren tausend verkrüppelten, und manchmal gar nicht lebensfähigen Babys begann, nahm 1970 ein vorläufiges Ende mit einem gerichtlichen Vergleich. Auch Helga Nuding hat damals jene Erklärung unterzeichnet, die nach 283 Tagen den Schadensersatzprozess beendete. 100 Millionen DM würde die Firma Grünenthal, die das Mittel Contergan hergestellt hatte, in eine Stiftung einbezahlen, die Eltern der geschädigten Kinder beteuerten im Gegenzug, nicht mehr gegen die Firma zu klagen. „Wir haben damals zugestimmt, weil uns gesagt wurde, wir bekämen sonst gar nichts. Wir haben uns täuschen lassen”, sagt Helga Nuding.

"Das ist völlig harmlos!”, hatte der Hausarzt gesagt

Ein oder zwei Tabletten Contergan hat sie während der Schwangerschaft genommen. Der Hausarzt hatte es ihr empfohlen, als er den Schwiegervater behandelte. „Was ist mit Ihnen, sie sehen so blaß aus?” hatte er gefragt und sie hatte ihr Leid geklagt von den Bauarbeiten für die nahe Leverkusener Autobahn, von den schlaflosen Nächten. „Nehmen Sie das Mittel, das ihr Schwiegervater verschrieben bekommen hat. Das ist völlig harmlos!”, hatte der Hausarzt gesagt. Sie tat es einmal, vielleicht zweimal, hatte nicht einmal den Namen auf der Verpackung gesehen.

Nach bald 50 Jahren hatte man die Leiden der Contergan-Geschädigten fast vergessen. Bis der Filmproduzent Michael Souvignier ihre Geschichte als Fernseh-Zweiteiler aufarbeitete. Wieder legte sich die Stolberger Pharmafirma Grünenthal quer, prozessierte sie gegen die Ausstrahlung. Als der Film „Eine einzige Tablette” dann gezeigt wird, im November 2007, ist er ein Fanal gegen die schreiende Ungerechtigkeit. Dass Menschen, die unverschuldet behindert zur Welt kamen, die deshalb nicht in der Lage sind, arbeiten zu gehen, mit Renten von wenigen hundert Euro abgefunden werden.

Bis zu 1090 Euro erhalten die Contergan-Geschädigten nun, seit der Bundestag im Mai entschied, die monatlichen Zahlungen zu verdoppeln. Doch der Film hat Nuding und seine Mitstreiter ermutigt. „Wir haben es satt, 46 Jahre hingehalten zu werden. Wir bringen die Sache hier und jetzt zu Ende!” Es ist der Tag zwei ihres Hungerstreiks.

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