Essen. Zwei Studien zeigen, wie der Mensch die Belastungsgrenzen des Planeten überschreitet. Das Eis schmilzt, die Wälder brennen. Kippen Klimapunkte?

2023 wird nach Einschätzung von Experten das heißeste je gemessene Jahr. Seit einem halben Jahr schon hält sich die Durchschnittstemperatur der Erdoberfläche auf Rekordhöhe. Zuletzt verzeichnete das EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus einen September, der 1,75 Grad über dem Durchschnitt in der vorindustriellen Zeit lag.

Eine derart große Abweichung wurde noch nie gemessen. „Das ist einfach unfassbar,“, sagt der Leiter des EU-Klimawandel-Diensts, Carlo Buontempo. Klimaforschern zufolge trägt das Wetterphänomen El Niño, das aktuell den südlichen Pazifischen Ozean aufheizt, erheblich zu Wärmerekorden bei. Dabei werden die stärksten Auswirkungen erst Anfang 2024 erwartet.

Kipppunkte des Klimas: Das Zeitalter des Feuers hat begonnen

Der Zustand der Erde und das Wohlergehen der Menschheit, beides ist untrennbar miteinander verbunden. Klimawandel, Abholzung, Artenschwund – für jeden dieser Bereiche gibt es laut einer Theorie von Wissenschaftlern eine Grenze, die nicht überschritten werden sollte, wenn Leben auf der Erde dauerhaft möglich sein sollte. Werden diese Kipppunkte überschritten, kann sich in den Klima- und Ökosystemen der Erde etwas in Gang setzen, von dem es kein Zurück mehr gibt, so die Befürchtung. In den vergangenen Tagen sind nun zwei Studien erschienen, die darlegen, wie der Mensch durch sein Eingreifen die Belastungsgrenzen der Erde überschreitet. Es ist ein Spiel mit Feuer und Eis.

Das Zeitalter des Feuers hat begonnen. 2023 brannten weltweit die Wälder, ausgetrocknet von Dürre und Hitzewellen, geschwächt und anfällig für Schädlinge wie dem Borkenkäfer. Kanada erlebte ab März die schlimmste Waldbrandsaison in der Geschichte der Aufzeichnungen. Bis Oktober verbrannten nach offiziellen Zahlen 184.000 Quadratkilometer Wald, eine Fläche größer als die Hälfte Deutschlands. Auch rund um das Mittelmeer tobten die Flammen, in Griechenland, Italien, Kroatien und Spanien. Das Pyrozän, das Zeitalter des Feuers, verändere bereits unsere Landschaften, stellt Waldbrandforscher Johann Georg Goldammer fest. „Wir sind im zweiten Teil des Pyrozäns, in dem Teil eins – die Verbrennung fossiler Brennstoffe – die Erde in eine höhere Brennbereitschaft versetzt hat“, sagte Goldammer in einem Interview mit dem SRF.

Wälder sind Speicher und Schatzkammern der Artenvielfalt

Mit den Wäldern verliert die Erde gigantische Kohlenstoffspeicher. Sie bedecken 30 Prozent der Landoberfläche, speichern aber etwa die Hälfte des auf der Erde gebundenen Kohlenstoffs in ihrer Vegetation, merkt der World Wide Fund for Nature (WWF) an. Tropische Regenwälder sind dabei von besonderer Bedeutung. Sie speichern 50 Prozent mehr Kohlenstoff als Wälder außerhalb der Tropen. Wälder gelten zugleich als Schatzkammern der Artenvielfalt. Verschwindet der Wald, verschwinden die Arten.

Neben dem Feuer ist es vor allem der Mensch, der die Wälder zerstört, um die Fläche für andere Zwecke zu nutzen. Landwirtschaft, Straßenbau und kommerzielles Holzfällen seien die Treiber der Zerstörung. Die weltweite Entwaldung hat nach einer neuen Studie im vergangenen Jahr zugenommen. Es sei 2022 vier Prozent mehr Fläche entwaldet worden als noch im Jahr zuvor, heißt es in einem Bericht, an dem mehr als zwei Dutzend Umweltgruppen und Forschungsorganisationen mitgearbeitet hatten. 2022 gingen demnach weltweit 6,6 Millionen Hektar Wälder verloren – eine Fläche fast so groß wie Bayern. 96 Prozent davon sei in tropischen Regionen vernichtet worden. „Die Wälder wandeln sich von einer Kohlenstoffsenke zur Quelle“, warnt der WWF.

Brände und Entwaldung sind Treiber der Zerstörung

2021 hatten mehr als hundert Länder zugesagt, den Waldverlust bis 2030 zu stoppen und umzukehren. Dem „Forest Declaration Assessment“ zufolge war die Entwaldung im vergangenen Jahr jedoch mehr als 20 Prozent höher, als sie hätte sein dürfen, um das Ziel zu erreichen. „Das Ziel für 2030 ist nicht nur schön zu haben, sondern für die Erhaltung eines lebenswerten Klimas für die Menschheit unerlässlich“, sagte Autorin Erin Matson. Die Daten schwankten von Jahr zu Jahr. „Aber was wirklich wichtig ist, ist der Trend“, so Matson. Dieser gehe „in die falsche Richtung“.

Es gebe aber auch positive Entwicklungen, heißt es in dem Bericht. So seien 50 Länder weltweit auf dem Weg dahin, Abholzungen zu beenden. Auch Brasilien, Indonesien und Malaysia, wo sich große Regenwälder befinden, die als wichtige CO2-Speicher gelten und wichtige Funktionen beim Kampf gegen den Klimawandel haben, machten Fortschritte.

Lange galt die Antarktis als resistent gegen die Einflüsse der globalen Erwärmung. Das Bild zeigt einen gigantischen Riss im Larsen-Schelfeis.
Lange galt die Antarktis als resistent gegen die Einflüsse der globalen Erwärmung. Das Bild zeigt einen gigantischen Riss im Larsen-Schelfeis. © Picture Alliance/dpa

Eis der Antarktis reagiert auf die globale Erwärmung

Kipppunkte des Klimasystems sind so etwas wie tickende Zeitbomben. Johan Rockström, der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), nennt sie die Großrisiken im Klimasystem der Erde. „Das ist wie bei einem Stift, den man mit dem Finger immer weiter über eine Tischkante hinaus schiebt. Erst passiert nichts – dann fällt er.“ Einer dieser Kipppunkte sind die riesigen Eismassen der Westantarktis am Südpol der Erde.

Lange galt die Antarktis als resistent gegen die Einflüsse der globalen Erwärmung. Das galt als großes Glück, denn dort ist der größte Anteil des globalen Landeises gebunden. Würde es abschmelzen, was nach Stand der Wissenschaft nicht zu erwarten ist, würde der Meeresspiegel global durchschnittlich um 58 Meter ansteigen. Inzwischen reagieren die drei Regionen der Antarktis auf die Erwärmung, allerdings sehr unterschiedlich.

Britische Studie: Abschmelzen des Schelfeises unabwendbar

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In der Ostantarktis nimmt in einigen Regionen die Eismasse zu. Auf der Antarktischen Halbinsel hingegen herrscht das mildeste Klima der Antarktis, es ist der Teil des Kontinents, der sich durch den Klimawandel am stärksten erwärmt. Dort wurde der Zusammenbruch ausgedehnter Eisschelfe beobachtet. Sorgenkind aber ist die Westantarktis, wo sich der Eisverlust seit dem Jahr 2010 stark beschleunigt hat. Ein komplettes Abschmelzen des Westantarktischen Eisschildes würde den Meeresspiegel um vier bis fünf Meter ansteigen lassen, so der Stand der Forschung.

Eine Studie britischer Forscher kommt nun zu dem Ergebnis, dass selbst im Falle von Klimamaßnahmen zumindest das Abschmelzen des Schelfeises in Teilen der Westantarktis unabwendbar sei. Schelfeis sind auf dem Meer schwimmende Ausläufer der Gletscher. Diese Eisschilde sind mit den Gletschern noch in Kontakt, liegen aber nicht mehr auf dem Meeresgrund auf. Warme Meeresströmungen dünnen nun das Eis aus. Die Welt müsse sich auf einen deutlichen Anstieg des Meeresspiegels vorbereiten, schreibt ein Forscherteam des British Antarctic Survey im Fachblatt „Nature Climate Change“.

Forscherin: Kontrolle über das Abschmelzen verloren

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Die Wassererwärmung und das beschleunigte Abtauen treffen die Schelfeise, die als Barrieren für die Gletscher der Westantarktis fungieren. Als Folge könnten die Gletscher der Westantarktis schneller ins Meer abrutschen. „Es sieht so aus, als hätten wir die Kontrolle über das Abschmelzen des westantarktischen Eisschilds schon verloren. Wenn wir den heutigen Zustand erhalten wollten, hätten wir schon vor Jahrzehnten mit dem Klimaschutz anfangen müssen“, sagt die Glaziologin Kaitlin Naughten, eine der Autoren der Studie. „Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten des Meeresspiegel-Anstiegs zu begrenzen, wird eine Kombination erfordern aus Schadensminderung, Anpassung und Glück.“