Essen. Es wurden Fehler gemacht in der Corona-Krise. Fahrlässigkeit oder gar Absicht waren nicht im Spiel. Etwas aber ist doch unverzeihlich ...

Ich habe einen Fehler gemacht. Ich hätte Lotto spielen und zur Ziehung am 4. Februar die Zahlen 29, 31, 33, 34, 35, 37 und die Superzahl 8 ankreuzen sollen. Ewiger Reichtum wären meiner Familie und mir beschert worden. Nach der Ziehung der Lottozahlen war mir alles schlagartig klar, aber leider war es zu spät. Ich werde mich dafür bei meiner Frau noch heute Abend in aller Form entschuldigen, mit einem Strauß Blumen. Für ein Diamantcollier reicht es leider nicht, so ohne Lottogewinn.

Sie finden, das mit der Entschuldigung sei übertrieben, gar unlogisch? Schließlich sei man hinterher immer schlauer? Ich meine das, nun frei von Ironie, auch. Ich meine, dass sich manche Fehler gar nicht vermeiden lassen, und dass die Schuldfrage immer vor dem Hintergrund des zum Zeitpunkt einer Entscheidung, einer Handlung oder Unterlassung offenkundigen Wissensstands beantwortet werden muss. Wenn Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) also genauso wie sein NRW-Kollege Karl-Josef Laumann (CDU) im Nachgang der Corona-Pandemie von Fehlern spricht, die gemacht wurden, dann zeugt das zunächst von Größe, von der Bereitschaft zu lernen. Was die Lauterbachs und Laumanns dieser Welt aber nicht müssen, ist dies: sich entschuldigen – auch wenn die ewigen Freedom-Day-Schreihälse das gerne so hätten.

Das Grauen von Bergamo? Vergessen!

Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie kurz das Gedächtnis mancher Menschen reicht. Corona, das war zu Beginn, als es noch keine Impfungen gab, auch eine Art Lotterie – nur dass es hier nichts zu gewinnen, dafür aber viel zu verlieren gab. In Norditalien starben innerhalb weniger Wochen tausende Corona-Kranke, teils auf der Straße, sich selbst überlassen. Augenzeugen berichteten von kriegsähnlichen Zuständen. Das ist gerade einmal drei Jahre her. Italien ergriff daraufhin, geprägt durch diese traumatische Erfahrung, Corona-Schutzmaßnahmen in einer Radikalität, wie wir sie in Deutschland nie erlebt haben.

Einschneidend waren die Einschränkungen auch hierzulande natürlich trotzdem. Dass die Friseure wochenlang geschlossen blieben und manch einer von uns verzweifelt selbst zur Schere greifen musste – geschenkt! Darüber können wir heute lachen (sofern wir nicht Friseure sind, die damals wie viele andere auch um ihre Existenz bangen mussten). Kurios war es im Nachgang auch, dass anfangs Spielplätze und Parkbänke abgesperrt wurden. Das waren aus heutiger Sicht eindeutige Fehler, die man nicht mehr wiederholen würde, weil man jetzt weiß: An der frischen Luft passiert so gut wie nichts.

Armin Laschets Hendrik Streeck

Schwerwiegender waren die Entscheidungen zu den Schulschließungen sowie zur Isolierung alter Leute in den Pflegeheimen. Heute wissen wir, dass die verantwortlichen Entscheidungsträger hier deutlich übers Ziel hinausgeschossen sind, dass die Maßnahmen nicht immer verhältnismäßig waren. Und ja, der damalige NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass es in der Wissenschaft auch damals schon unterschiedliche Stimmen gegeben habe. Laschets Haus- und Hof-Virologe Hendrik Streeck etwa hatte wiederholt vor Schulschließungen gewarnt. Es habe nicht „die Wissenschaft“ gegeben, auf die sich Lauterbach etwa heute immer wieder beziehe. Lauterbach begehe hier einen Denkfehler, so Laschet.

Naja. Vielleicht ist es ja doch Laschet, der hier den Denkfehler macht. Denn auch wenn es „die Wissenschaft“ nicht gibt, so gab und gibt es sehr wohl eine vorherrschende Meinung und, wenn man auf verschiedene Forscher blickt, unterschiedliche Renommees. 2020 war der Virologe Christian Drosten, auf den sich Lauterbach oft berief, 15.000 Mal in der Fachliteratur zitiert worden, Laschets Streeck dagegen nur 700 Mal. Das macht Streeck nicht per se unglaubwürdig; doch in der Corona-Forschung ist er vergleichsweise eher ein Leichtgewicht. Daran ändert auch die nachträgliche Rechthaberei nichts.

Jens Spahns dunkle Vorahnung

Der damalige, stets unglücklich und überfordert wirkende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte während der Pandemie gesagt, es werde einander viel zu „verzeihen“ geben, sobald die Krise überwunden sei. Ich glaube nicht, dass das handlungsleitend sein kann für die notwendige Corona-Bilanz. Klar ist nur, was unverzeihlich ist: aus Fehlern nichts zu lernen, sobald diese als solche erkennbar werden.

Als ich vor ein paar Tagen bei einem Elternabend in der Grundschule auf einem dieser viel zu kleinen Stühle hockte und mein Blick so durch den Klassenraum wanderte, blieb er an der großen grünen, mit weißer Kreide beschrifteten Tafel hängen – an einer Tafel, wie es sie schon zu meiner Grundschulzeit vor vierundvierzig Jahren gab. Wir sind jetzt im Jahre 2023 angekommen; in der Pandemie funktionierte der digitale Unterricht auf Distanz mehr schlecht als recht. Und nun?

Undichte Fenster statt Smartboards

Wo, verdammt noch mal, sind die interaktiven Smartboards, wie sie einer Industrienation wie Deutschland würdig wären? Die Lehrerin zuckte mit den Schultern, als in mir, für sie erkennbar, ein leiser Anflug von Empörung aufstieg, und zeigte auf die undichten Fenster hinter mir: „Jetzt werden die erstmal ausgetauscht, damit es nicht mehr zieht wie Hechtsuppe.“

Haben wir, wir als Gesellschaft, eigentlich noch alle Tassen im Schrank, das so hinzunehmen?

Auf bald.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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