Essen. Optimismus ja, zu viel Euphorie lieber nicht: Eine Ampel-Koalition, das zeigen die finanzpolitischen Planungen, könnte den Rausch jäh beenden.
Wie schnell muss man eigentlich fahren, um die „Grüne Welle“ in der Essener Ruhrallee genau zu treffen? Diese Frage stelle ich mir jeden Morgen und jeden Abend, wenn ich versuche, flüssig mit dem Auto durch die Stadt zu pendeln – und komme immer wieder zur selben Antwort: Es ist schnurzpiepegal. Irgendwann stehst Du immer vor den roten Ampeln. Es ist nicht zu vermeiden. Das zu lösen, am besten bundesweit und ein für alle Mal, wäre doch die vornehmste Aufgabe einer – na? – Ampelkoalition natürlich! Mit der wird jetzt alles besser. Alles.
Das sei ein doofer Kalauer, finden Sie? Einverstanden. Denn die sich in Teilen der Gesellschaft breit machende Ampel-Koalitions-Euphorie ist in der Tat zu ernst für solche Witzchen. Ja, es ist schon in Ordnung, mit einer neuen politischen Konstellation hohe Erwartungen zu verknüpfen. Die Herausforderungen sind gewaltig; man sollte sie mit Respekt, aber eben auch mit einem gewaltigen Schuss Optimismus angehen. Das wäre ja etwas: ein Volk, das plötzlich verliebt ist ins Gelingen, das „denen da oben“ etwas zutraut und nicht mehr gelähmt wirkt durch diese ewig miesepetrige German Angst.
Christian Lindner, kurz vorm Abheben
Wir schaffen das! – hätte ich fast geschrieben, aber die Zeiten sind ja nun vorbei. Yes, we can! – ist auch ein alter Hut. Versuchen wir es darum mal mit Christian Lindner. Der FDP-Chef sprach nach Abschluss der Ampel-Sondierungen von einem Neustart, von einer Zäsur, vom besten Zukunftsprojekt, das Deutschland seit langer Zeit gesehen habe. Lindner machte, als er mit seinen neuen politischen Freunden von SPD und Grünen vor die Kameras trat, ausgeprägt künstliche Kunstpausen zwischen seinen wortgewaltigen Superlativen. Ich hatte ein wenig Angst, er würde im nächsten Moment, beflügelt von der Bedeutung des Moments, davonschweben, direkt hinein in den siebten Himmel, direkt hinein ins bundesadlergeschmückte Bundesfinanzministerium.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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Es war, als würden im Hintergrund süße Geigen spielen – bis, ja bis mein Blick an Saskia Esken hängenblieb, die auch auf dieser Bühne stand. Saskia Esken, das wissen viele nicht, ist eine von zwei SPD-Parteivorsitzenden. Lindner sah in ihr noch vor wenigen Wochen eine Gefahr für Wohlstand und Freiheit; ihm fehlte die „Phantasie“, mit den sozialistischen Eskens und Kühnerts dieser Welt eine Koalition einzugehen. Und jetzt das: Neustart, Zäsur, Zukunftsprojekt. Ich finde, eine gesunde Skepsis sollten wir uns bewahren und dem rot-gelb-grünen Projekt kritisch-gewogen begegnen, mit weniger Euphorie und mehr Verstand.
Die Rechnung geht nicht auf
Besonders kritisch sollten wir auf die finanziellen Aspekte blicken, die das Sondierungspapier offenbart. Gerade hier wird besonders deutlich, dass da schlimmstenfalls etwas zusammenwächst, was im Kern nicht zusammengehört. 50 Milliarden Euro pro Jahr will die „Fortschrittskoalition“, kommt sie denn zustande, investieren in Klimaschutz, Digitalisierung und Modernisierung, so hat es Grünen-Chefin Annalena Baerbock vorgerechnet. Und das soll, darauf besteht die FDP, gelingen ohne Steuererhöhungen und/oder höhere Schulden? Ich übe mit meinem Sohn, er geht in die dritte Klasse, gerade fast jeden Abend das kleine Einmaleins. Ich denke, er würde sagen: „Papa, die Rechnung stimmt nicht!“
Mein lieber Sohn, könnte ich antworten, Politiker wären keine Politiker, wenn sie nicht hin und wieder auch einmal in die politische Trickkiste greifen würden. Schattenhaushalte, euphemistisch als Investitionsfonds bezeichnet, wären eine Möglichkeit, die Schuldenbremse formal einzuhalten und trotzdem auf Pump zu investieren. Dass solche Nebentöpfe intransparent und undemokratisch sind, weil sie ein Stück weit das Haushaltsrecht des Parlaments beschneiden, ist dann ein gewollter Nebeneffekt.
Die Schuldenbremse ausbremsen
Eine andere Möglichkeit wäre es, gleich zu Beginn der Regierungszeit als Bund einen hohen Kredit aufzunehmen (im Gespräch sind 500 Milliarden Euro), bevor die derzeit ausgesetzte Schuldenbremse 2023 wieder greift. 5 mal 5 ist dann nicht nur 25, sondern 50 oder, auf zehn Jahre gerechnet, 500. Mathe-Lehrer machen so etwas nicht mit, politische Sondierer schon.
Die Glaubwürdigkeit der Akteure steigert das freilich nicht. Nachhaltige Politik, Politik für die künftigen Generationen, für Ihre Tochter und meinen Sohn also, kümmert sich nicht nur um den Klimaschutz. Sie hat auch die Staatsfinanzen fest im Blick. Hohe Schulden verringern die Spielräume künftiger Regierungen. Die stehen eines Tages vielleicht ganz neuen Krisen gegenüber, deren Bewältigung – wie in der Corona-Krise gesehen – viel Geld kostet.
Besonders verheerend, weil vertrauensmindernd, wirken die Pläne zur Rentenpolitik. Die Beiträge zur Rentenversicherung sollen nicht steigen; gleichzeitig soll das Rentenniveau nicht sinken. So steht es im Sondierungspapier. Vielleicht könnten die Neu-Koalitionäre ja noch eine neue Frühlingsdiät für die Übergewichtigen unter uns kreieren: Wir dürfen essen, was wir wollen – und nehmen dabei gleichzeitig ab. Das wäre für meinen Körper ein Neustart, eine Zäsur, ein Zukunftsprojekt ganz nach meinem Geschmack.
Cannabis-Steuer löst alle Finanzprobleme. Nicht.
Interessant ist übrigens auch, was nicht im Sondierungspapier steht: die Legalisierung von Cannabis. Opium fürs Volk? Das könnte eine Lösung sein, um die gute Stimmung auch dann aufrechtzuerhalten, wenn die ersten Rechnungen der Regierung auch in der Realität nicht aufgehen. Außerdem, haben die Jusos gerade vorgerechnet, würde eine Cannabis-Steuer mehrere Milliarden Euro pro Jahr in die Staatskasse spülen. Alle Finanzprobleme, siehe oben, wären mit ein paar tiefen Zügen gelöst.
Ja, haben die noch alle Space Cakes im Schrank?
Zum Glück wird der designierte Bundesfinanzminister Lindner die schlimmsten Auswüchse verhindern – sofern er sich am Ende nicht als zum Gärtner gemachter Bock erweist. Die Hoffnung stirbt zuletzt, oder: Jede rote Ampel springt auch wieder auf Grün.
Auf bald.