Die Antischwulenhetze in Russland ist nicht zu entschuldigen - aber sie beeinträchtigt den Alltag der meisten Homo- und Bisexuellen viel weniger, als solche Schlagzeilen vermuten lassen. Doch das gemeinsame Feindbild bietet einen bequemen Schulterschluss mit dem Regime.

Die Nachrichten aus Russland sind mal wieder haarsträubend. Gerade wurde ein Gesetz verabschiedet, das „homosexuelle Propaganda“ gegenüber Jugendlichen verbietet. Seitdem hagelt es Meldungen von verprügelten Gay-Aktivisten, antischwulen Promisprüchen und Rechtsradikalen, die mutmaßliche Strichjungen vergewaltigen.

Aber: Die von Moskau losgetretene Schwulenhetze beeinträchtigt den Alltag der meisten Homo- und Bisexuellen viel weniger, als solche Schlagzeilen vermuten lassen. Wie so viele von oben organisierte Feldzüge ist der Kampf gegen „Sodom und Gomorra“ mit sehr viel Lärm verbunden. Vom Normalbürger wird er innerlich wohl eher gutgeheißen. Aber er käme nicht auf die Idee, Schwule zur Rede zu stellen oder gar zu verprügeln.

Der jüdische Blogger Anton Nosik vergleicht die neue russische Homophobie mit dem schleichenden Antisemitismus, den die späte Sowjetmacht veranstaltete, ohne damals beim Volk aktiven Judenhass entfachen zu können: „Auf der Straße ist diese Politik nie angekommen.“

Gegen die Homosexuellen heute herrscht in Russland ebenso wenig Pogromstimmung. Die Panik in der Szene hält sich in Grenzen. Doch das entschuldigt die Absichten der staatlichen Antischwulenhetzer keineswegs. Zumal Hetze gerade groß in Mode ist unter Russlands Politikern. So machen praktisch alle Kandidaten im Moskauer Bürgermeisterwahlkampf lautstark Front gegen Gastarbeiter aus den armen zentralasiatischen Staaten. Tadschiken, Usbeken, Kirgisen, eine wehrlose, ausgebeutete Randgruppe, die jetzt als Sündenbock für die unerfreuliche Kriminalstatistik der russischen Hauptstadt herhalten muss.

Russlands politische Kultur wird immer rechtspopulistischer. Das griffige Feindbild „Knabenschänder“ mobilisiert die Massen zwar nicht, bietet ihnen aber einen bequemen Schulterschluss mit dem Regime an. Die unterschwellige Botschaft: ­Demokratie bedeutet sittlichen Verfall. Eine plumpe Ersatzideologie, die auch noch geheuchelt ist. Ihre Prediger schicken die eigenen Kinder zum Lernen und Studieren in die Hochburgen der vorgeblichen Unzucht, nach London oder Paris, Zürich oder Berlin.