Die Seismologie kann allerhand messen, ist aber nicht in der Lage, den Zeitpunkt eines schweren Erdbebens vorherzusagen. Wenn das Urteil Bestand hat, werden Wissenschaftler sich entweder gar nicht mehr zu konkreten Gefahren äußern, oder sie müssen bei jedem kleinsten Anzeichen warnen.
Das Gefühl ist nachvollziehbar: Mehr als 300 Tote, Zehntausende Obdachlose - da muss es einen Schuldigen geben. Selbst, wenn es sich um eine Naturkatastrophe handelt wie in L’Aquila im April 2009. Aber diesem Impuls so nachzugeben wie die italienischen Richter, die sieben Erdbeben-Experten zu sechs Jahren Haft verurteilten, weil sie nicht gewarnt hätten, ist absurd und gefährlich. Die Seismologie kann allerhand messen, ist aber nicht in der Lage, den Zeitpunkt eines schweren Erdbebens vorherzusagen. Wenn das Urteil Bestand hat, werden Wissenschaftler sich entweder gar nicht mehr zu konkreten Gefahren äußern, oder sie müssen bei jedem kleinsten Anzeichen warnen - mit der Folge, dass niemand mehr ihre Analysen ernst nimmt.
Natürlich hat der Gedanke etwas Verführerisches, Experten in Haftung zu nehmen für ihre Voraussagen. Aber will man ernsthaft den Meteorologen verklagen, weil die Gartenparty ins Wasser gefallen ist? Man muss unterscheiden zwischen Ingenieuren, die ausrechnen müssen, ob eine Brücke hält, und Wissenschaftlern, die nur Möglichkeiten, Bedingungen und Wahrscheinlichkeiten formulieren können. Dass sich letztere, etwa in den notorisch unzuverlässigen Wirtschaftswissenschaften, als allwissende Gurus aufspielen, ist zwar ein Ärgernis, aber keines, dem strafrechtlich beizukommen ist.