Ausgerechnet in ihrer wohl tiefsten Krise, zu einer Zeit, in der Euroskeptizismus und Renationalisierung wuchern, wird die Europäische Union mit dem wichtigsten Preis der Welt ausgezeichnet. Sie hat den Friedensnobelpreis verdient. Die tiefe Krise, in der sich die Union befindet, die Zentrifugalkräfte, die ihre Einheit zu zerreißen drohen, verstellen den Blick auf das, was Europa dieser Union verdankt.

Die Gründerväter, allen voran Adenauer, de Gasperi, Schumann, leisteten vor sechzig Jahren schier Undenkbares, versöhnten, was unversöhnbar schien. Aus den Trümmern eines von Kriegen zerstörten Kontinents wuchs eine Gemeinschaft, zusammen aufgebaut von Völkern, die sich zuvor gegenseitig abgeschlachtet hatten. Aus Feinden wurden Freunde. Europa hat niemals zuvor eine so lange Zeit des Friedens erlebt. Wer heute in Europa aufwächst, für den ist es unvorstellbar, dass jemals wieder Franzosen, Briten, Niederländer, Deutsche aufeinander schießen werden. Mehr braucht es eigentlich nicht als Rechtfertigung für die Verleihung des Friedensnobelpreises.

Die Verleihung dieses Preises ist natürlich ein Signal an die 500 Millionen Menschen in der Europäischen Union, die in diesen Krisenzeiten allzuleicht verdrängen, wofür Europa steht. Für den Frieden, aber auch für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Wohlstand, offene Grenzen, all das, was wir für selbstverständlich erachten, was auf der Welt aber immer noch Leuchtturmcharakter hat.

Europa hat sich nicht von ungefähr zu einer Festung entwickelt, an deren Mauern all jene zerschellen, für die es zu einem Sehnsuchtsort geworden ist.

Die Verleihung des Friedensnobelpreises ist aber auch Mahnung an die Politik, die die Union um die Menschen herum errichtet hat und es versäumt hat, ihren Wert zu vermitteln. Die erbärmliche Konstruktionsfehler gemacht hat, in ihrem Bemühen, die Integration voranzutreiben, koste es, was es wolle. Die Europäische Union ist in den Augen vieler Bürger noch immer vor allem eine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft, das Europa der Konzerne, in dem Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt werden, Arbeitsmigration zur Förderung von Dumpinglöhnen befördert und staatliche Wohlfahrt abgeschafft wird; in dem die soziale Ungerechtigkeit zunimmt. Die Europäische Union ist für viele Menschen eine aufgeblähte und teure Brüsseler Bürokratie, von der sie sich fremdbestimmt fühlen, und für die sie bezahlen, ohne etwas zurück zu bekommen.

Wenn, wie in Irland geschehen, Volksabstimmungen so lange wiederholt werden, bis das erwünschte, weil europafreundliche, Ergebnis erzielt wird, nährt das europaskeptische Vorbehalte. Wenn in einer Krise wie der aktuellen nur noch auf Sicht gefahren wird, ohne Visionen, aber dafür umso mehr nationalen Egoismen, dann macht Europa den Menschen Angst, dann wenden sie sich von diesem großen Projekt ab. Das hat Europa nicht verdient. Ja, der europäische Integrationsprozess muss vorangetrieben werden, hin zu einer politischen Union. Das geht aber nur mit den Menschen in Europa.

Der Friedensnobelpreis für die Europäische Union muss Ansporn sein für mehr Europa – aber für eines, das demokratischer, solidarischer, sozialer ist.