Erhobener moralischer Zeigefinger gegen Freude am rollenden Ball: Die WM 2022 in Katar ist eine Zwickmühle – nicht nur für Fußball-Fans.
Die Empörung war groß, als der katarische WM-Botschafter im ZDF sagte, dass er nichts von Schwulen und Lesben halte. Was für eine Neuigkeit! Schließlich werden homosexuelle Menschen in ziemlich allen islamisch geprägten Ländern unterdrückt, in einigen droht sogar die Hinrichtung. Zur Wahrheit gehört auch, dass Homosexualität bei uns in Deutschland noch bis 1994 unter Strafe stand. Das TV-Interview steht daher sinnbildlich für das Dilemma mit der WM.
Denn die Öffentlich-Rechtlichen haben mehr als 200 Millionen Euro Gebührengeld für die Übertragung der Spiele ausgegeben. Und da wirkt die nun kritischere Berichterstattung nur wie ein Pflaster auf eine Wunde – die aber nicht heilen wird. Und dieses Unbehagen spüren wir alle.
Der Mammon hat das Sagen
Von Anfang an war klar, dass bei den Spielen in Katar der Mammon das Sagen hat. Offensichtlich haben sich Fifa und DFL so sehr an das viele Geld gewöhnt, dass sie die Kritik vieler Fans am Handeln der Funktionäre, an der Verquickung von Politik und Sport oder am Gebaren protzender Spieler gar nicht verstehen. In der Bundesliga ist die Entfremdung zu spüren, wenngleich weiter Millionen zusehen.
Auch wir als Redaktion sind in Katar vertreten. Einige in der Redaktion halten das übrigens für falsch und plädieren für einen Boykott der WM. Ich kann das gut verstehen, bin aber dennoch für die Präsenz vor Ort. Denn nur so können wir auch über das, was sich neben den Spielfeldern abspielt, berichten. Reporter müssen sehen, hören und aufschreiben, was läuft. Entscheidend ist stets die kritische Distanz. Es liegt in der Natur eines Dilemmas, das jede Möglichkeit der Entscheidung nicht funktioniert. Zwickmühle nennen wir diese Situation. Wir würden gern beim internationalen Turnier mitfiebern und feiern, doch fühlen uns dabei höchst unwohl. Es ist genau das Gegenteil von dem, was wir 2006 beim „Sommermärchen“ so unbeschwert erleben durften.
Auch die Bundesregierung hat ein Problem
Wer sich näher mit Katar beschäftigt, blickt unweigerlich auf die Toten beim Bau der Stadien, auf fehlende Menschenrechte und auf einen autokratischen Staat, in dem nur wenige frei sind. Klarer Fall: Solche Missstände gibt es nicht nur in Katar, sondern in vielen Ländern.
In der Zwickmühle befinden sich nicht nur die Fans und die Medien, sondern auch die Bundesregierung. Außenministerin Baerbock fordert eine „wertegeleitete“ Politik, zugleich müht sich Wirtschaftsminister Habeck um Gasgeschäfte mit den katarischen Scheichs. Alles irgendwie richtig, aber trotzdem ein Widerspruch.
Dieser Spagat ist deshalb so unsäglich, weil wir als Staat und Gesellschaft allzu oft mit erhobenem Zeigefinger oder mit Scheuklappen auf die Welt blicken.
Verstörende Zusammenhänge
Dabei erleben wir gerade, wie komplex und verstörend die Zusammenhänge sind: Wir liefern Waffen, weil es keinen Diktatfrieden geben soll. Wir loben E-Autos, die oft mit Kohle- oder Atomstrom fahren. Windräder sind gut, aber Stromtrassen nicht. Wir wollen Solardächer, die aber stammen meist aus China. Und wir sind gegen die Ausbeutung von Leiharbeitern, grillen aber preiswertes Fleisch.
Zugegeben: Das alles ist zugespitzt, trifft nicht für jeden zu und soll nicht relativieren. Aber es verdeutlicht, warum man die WM-Spiele schauen kann und zugleich kritisch gegenüber all jenen bleibt, die von Demokratie und Menschenrechten nichts halten. Dass das alles keine gute Laune macht, ist ein anderes Thema.