Essen. Weil Personal fehlt, fordert die Polizeigewerkschaft die Aufhebung des Einstellungsalters von 37. Ältere Anwärter sollen besser entlohnt werden.

Die Polizei könnte sich künftig für Quereinsteiger öffnen. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Nordrhein-Westfalen fordert gegenüber der NRZ, die Altersgrenze bei der Einstellung aufzuheben, um mehr geeignete Frauen und Männer für den Polizeidienst zu gewinnen. Im Gespräch mit der Redaktion blickt Michael Mertens, Vorsitzender der GdP in Nordrhein-Westfalen, auch auf die neue Landesregierung, die die Polizeiarbeit kritisch beäugt, die Wochenarbeitszeit und rechte Chats bei der Polizei in Münster.

Der neue grüne Justizminister Benjamin Limbach hatte kürzlich in einem Interview bei uns den Begriff Clan-Kriminalität kritisiert, weil man niemanden stigmatisieren dürfe. Darf man von Clan-Kriminalität reden?

Mertens: Der Begriff steht ja sogar im Koalitionsvertrag geschrieben. Man darf keine Menschen pauschal verurteilen, aber man darf auch die Fakten nicht aus dem Auge verlieren. 20 Prozent der organisierten Kriminalität kann der Clan-Kriminalität zugeordnet werden, das ist ein erheblicher Anteil. Ich bin dafür, dass wir bei Straftaten die Dinge klar beim Namen nennen.

Erwarten Sie eine andere Marschrichtung der neuen Regierung bei der Bekämpfung der Clan-Kriminalität?

Mit den Grünen werden neue Akzente gesetzt. Die CDU wird sich kompromissbereit zeigen müssen, gerade in der inneren Sicherheit. Vielleicht wird man nicht jede Razzia mit Minister Reul medial begleiten.

Aber bei der Bekämpfung der Clan-Kriminalität darf sich nichts ändern, sie wird ja auch aus gutem Grund ausdrücklich im Koalitionsvertrag erwähnt. Am Ende aber geht es nicht allein darum, Kriminalität zu bekämpfen. Sondern auch darum, Menschen Ausstiegsperspektiven aus solchen Clans aufzuzeigen – damit sie einem redlichen Job nachgehen und in unserer Gesellschaft ankommen.

Die Grünen sind per se kritischer mit der Polizei.

Es ist deren DNA, staatliche Gewalt zu kontrollieren. Für uns als Polizei gilt: Gerichte prüfen uns regelmäßig, auch Staatsanwaltschaften sind als Herrin des Verfahrens sehr kritisch, was polizeiliches Einschreiten betrifft. Die vierte Staatsgewalt ist die Medienlandschaft; auch hier werden wir regelmäßig überprüft. Wir müssen nach Recht und Gesetz handeln, daran müssen wir uns messen lassen. Und das ist auch gut so! Die Grünen schreiben die Kontrolle der Polizei groß.

Muss Polizei das ausbaden, was Politik versäumt hat? Bundesinnenministerin Nancy Faeser fordert nach Schlägereien in Berliner Freibädern dort mehr Polizei.

Ich glaube, Menschen haben verlernt, Konflikte selbst zu lösen. Wie oft werden wir als Polizei bei Auseinandersetzungen zwischen Nachbarn angerufen! Früher ist man selbst zum Nachbarn gegangen und hat gebeten, die Musik leiser zu stellen… Aber auch soziale Probleme und politische Fehler tragen dazu bei, dass die Polizei mehr gefragt ist. Sie ist immer da gefordert, wo politische Brennpunkte entstehen.

In der vergangenen Woche hatten wir wieder extreme Hitzetage. Da wären doch die einst angekündigten kurzärmligen Poloshirts für die Polizistinnen und Polizisten ganz hilfreich.

Absolut. Aber bislang: Fehlanzeige! Dass wir noch nicht einmal zeitnah ein paar T-Shirts für eine Probebehörde bekommen, wir reden von 30 bis 50 Polohemden – das ist ja schon fast ein Treppenwitz! Der Pilot wird also irgendwann im nächsten Sommer durchgeführt – denn im Winter macht es keinen Sinn, Poloshirts zu testen. So werden die Shirts tatsächlich erst ab 2024 eingeführt. Damit haben wir mindestens ein weiteres komplettes Jahr verschenkt. Wir haben dafür kein Verständnis.

GdP-Landeschef Michael Mertens im Gespräch mit NRZ-Redakteurin Denise Ludwig in Essen.
GdP-Landeschef Michael Mertens im Gespräch mit NRZ-Redakteurin Denise Ludwig in Essen. © FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Wie viele Neueinstellungen bräuchte es in NRW?

Es wurde vor Jahren entschieden, weniger Polizisten einzustellen. Wir haben als GdP dagegen gekämpft. Man konnte absehen, dass wir auf eine Pensionierungswelle zugehen. Irgendwann stieg die Zahl der Neueinstellungen wieder leicht auf 1100. Jetzt reden wir von 3000. Im Moment können wir die Abgänge gerade kompensieren.

Gibt es genügend Bewerberinnen und Bewerber?

Das Interesse, zur Polizei zu gehen, ist immer noch groß. Doch der Markt wird umkämpfter. Wir müssen alles tun, um an die 3000 zu kommen. Aber die Menschen müssen geeignet für den Beruf sein. Die Qualität der Ausbildung darf nicht leiden.

Müssen Zugangsvoraussetzungen verändert werden?

Was Fähigkeiten und Leistungen angeht: auf gar keinen Fall! Wir brauchen junge Leute, die stressresistent, belastbar, gesundheitlich fit und vom Intellekt her den Herausforderungen gewachsen sind. Aber lassen Sie uns an dieser Stelle auch einmal auf die Demografie blicken. Wir haben im Beamtenbereich viele ältere und viele junge Kolleginnen und Kollegen, uns fehlt der Mittelbau. Dabei sind gerade Menschen mit einer gewissen Lebenserfahrung eine Bereicherung für die Polizei! Ich finde, da muss man neu denken…

Wie meinen Sie das?

Meine Überzeugung ist: Gerade in Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche sollte die Polizei auch jenen ein Angebot machen, die sich in der Mitte ihres Lebens beruflich neuorientieren. Für sie könnte man die Altersgrenze aufheben. Derzeit gilt, mit Ausnahmen: Wer Polizeivollzugsbeamter werden will, darf am Tag der Einstellung das 37. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.

Klar ist, dass man bei diesen Menschen dann die Ausbildung auch mit Zulagen kompensieren muss, die einer Familie oder dem vorherigen Einkommen gerecht werden. Und man muss ihnen eine Perspektive bieten, weil sie in den verbleibenden 20 Jahren nicht mehr alle Karrierestufen erreichen können. Man könnte für sie die sogenannten Erfahrungsstufen, also eine Art Eingruppierungen, höher ansetzen. Dafür aber muss man den politischen Willen haben. Mir ist noch etwas ganz wichtig.

Was wäre das?

Die GdP denkt die Polizei immer als großes Ganzes. Wir haben auch Tarifbeschäftigte, die unsere Arbeit ergänzen. So brauchen wir IT-Fachkompetenz. Da brauchen wir eine gute Qualität, die muss auch bezahlt werden. In anderen Branchen verdienen IT-Experten mehr Geld. Und wir brauchen auch mehr Polizeiverwaltungsbeamte.

Vor Jahren ist in NRW die Arbeitszeit der Polizisten von 38,5 auf 41 Stunden angehoben worden. Die SPD hatte im Wahlkampf versprochen, sie wieder abzusenken...

Wir sind enttäuscht, dass zu diesem Thema so gut wie nichts im Koalitionsvertrag steht. 2003 musste der öffentlichen Dienst damals unter Rot-Grün mit sehr viele Einschnitten für die Konsolidierung des Haushaltes herhalten: Die Lebensarbeitszeit wurde bei uns bis 62 verlängert, das Urlaubsgeld gestrichen, das Weihnachtsgeld eingefroren – mittlerweile ist es komplett weg--, und aus der 38,5-Stunden-Woche wurde eine 41-Stunden-Woche. „Nur vorübergehend“ hatte es damals bei der Wochenarbeitszeit geheißen – von wegen!

Als Gewerkschaft finden Sie sich damit aber nicht ab.

Nein, absolut nicht! Es geht um Gerechtigkeit, um Vertrauen! Der ganze Vorgang zeigt doch, dass wir ein stückweit Leibeigene der Politik sind! Ich habe es mal durchgerechnet: Wer als Beamtin oder Beamter in diesen bald 20 Jahren dabei war, der hat dem Land durch die erhöhte Wochenarbeitszeit mittlerweile ein Jahr und drei Monate kostenlose Mehrarbeit geschenkt... Es reicht! Wir wollen zurück zu dem, was wir uns damals teuer erkauft hatten – zur 38,5-Stunden-Woche! Jetzt ist der Zeitpunkt, wo sich Innenminister Reul für die Polizei einsetzen und wo Ministerpräsident Wüst sein Herz für den öffentlichen Dienst zeigen kann.

Nach Essen und Mülheim gab es nun in Münster wieder den Fall, dass sich Polizeibeamte Chats mit rechter Gesinnung zugespielt haben. Sind das noch Einzelfälle?

Diese Vorfälle treffen uns mitten ins Herz! Ich kann nur betonen, dass das extreme Ausnahmen sind. Ich will nicht mehr von Einzelfällen sprechen, das wären nur ein oder zwei. Das darf nicht passieren. Aber der absolute Großteil der Polizei macht einen redlichen Job! Diese Vorfälle müssen restlos aufgeklärt werden, strafrechtlich als auch disziplinarrechtlich. Es darf bei uns kein ganz Rechts- und kein ganz Linksaußen geben – selbst wenn das von der freien Meinungsäußerung noch toleriert würde. Wir müssen politisch die Mitte der Gesellschaft abbilden

Muss es mehr Schulungen geben?

Ja, eindeutig. Wir gewinnen für den Polizeiberuf junge Menschen, wir bilden sie richtig gut aus und sie kommen mit einem guten Wissen und Werteverständnis in den Dienst. Und dann macht der Beruf etwas mit einem. Was wir in den Einsätzen alles erleben, das prägt uns, belastet. Es fehlt Reflexion. Das müssen wir wieder herstellen.

An den Flughäfen herrscht nach wie vor Chaos. Sollten Sicherheitskontrollen Staatsaufgabe sein?

Unsere Forderung war immer, die Kontrollen an den Flughäfen müssen in öffentlicher Hand sein. Bei Engpässen wie jetzt hätte man die Personalsituation dann besser managen können. Aber das ist ein Thema für die Kolleginnen und Kollegen der GdP Bundespolizei.