Berlin. Lügde, Bergisch Gladbach und Münster. Was sich in Nordrhein-Westfalen zeigt, ist ein gesamtgesellschaftliches Versagen. Ein Weckruf.

Die Ermittlerin schaut sich die Taten im Video nicht im Detail an. Das ist ihre Strategie, um die Arbeit erledigen zu können. Denn die Missbrauchs-Szenen sind ohne Schutzmechanismus nicht zu ertragen. Die Handlung im Video passiert, während sich die Ermittlerin auf das Umfeld konzentriert. Sie versucht, Dinge zu entdecken, die den Täter überführen können. So berichtet es der Kölner Kriminaldirektor Michael Esser, die Ermittlerin ist Teil der seit Herbst 2019 bestehenden Untersuchungsgruppe „Berg“. Eine Bettdecke im Video, eine Tätowierung, ein Plüschtier oder die Aussicht aus dem Fenster können darüber entscheiden, ob sich ein Kinderschänder vor Gericht verantworten muss oder nicht.

„Berg“ ist die Einheit, die im Missbrauchsfall von Bergisch Gladbach in Nordrhein-Westfalen ermittelt. 44 Kinder konnten identifiziert und so aus den Fängen von Menschen befreit werden, die sie auf das Übelste benutzt und gequält haben. Darunter ein drei Monate altes Baby.

Lügde, Bergisch Gladbach und jetzt Münster. Das sind drei Orte in Nordrhein-Westfalen, die innerhalb eines Jahres Ortsmarken für schwere Verbrechen wurden. Für die Ermittler taten sich Abgründe auf. Und „Das ist nur die Spitze des Eisberges“, befürchtet Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul. Hoffentlich, hat er damit kein Recht.

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Münster muss eine gesellschaftliche Zäsur sein. Ein Weckruf für alle

Doch wahrscheinlicher ist, dass bei der Sichtung des sichergestellten Videomaterials noch mehr zum Vorschein kommt. Noch mehr Täter und Täterinnen identifiziert werden, die ihre eigenen Kinder oder ihnen anvertraute für ihre sexuelle Befriedigung verletzen. Die sich und ihre Opfer dabei filmen, die die Aufnahmen geschäftsmäßig vertreiben. Die ihre Untaten für immer als Video konservieren.

Der einzige logische Schluss aus den Fällen von Nordrhein-Westfalen kann für die Politik nur sein, die Arbeit der Polizei beim Kampf gegen Missbrauch in allen Bundesländern massiv zu verstärken. Die Sichtung des Videomaterials – allein im Münsteraner Fall 600 Terabyte – bedarf mehr Personal als bisher eingesetzt wird. Nordrhein-Westfalen gibt der Erfolg recht, auch wenn das ganze Ausmaß eine grausame Realität innerhalb unserer Gesellschaft aufdeckt. Lesen Sie dazu: Missbrauchsfall in Münster: Gibt es zwei weitere Opfer?

Kindesmissbrauch macht nicht an der Grenze eines Bundeslandes halt. In NRW wird so viel aufgedeckt, weil es mehr Menschen gibt, die an der Aufdeckung dieser krimineller Strukturen arbeiten. Es ist eine ganz einfache Rechnung.

Für die Ermittler ist das Darknet Herausforderung und Chance zugleich

Redakteurin Diana Zinkler sagt, die ganze Gesellschaft muss sich beim Thema Kindesmissbrauch überprüfen.
Redakteurin Diana Zinkler sagt, die ganze Gesellschaft muss sich beim Thema Kindesmissbrauch überprüfen. © FMG | FMG

Das Darknet ist zum Tummelplatz für pädosexuelle Kriminelle geworden, eine beliebte Tauschbörse für Videos, in denen Kinder misshandelt werden. Selbst derjenige, der nur die Videos schauen will, wird bald von seinen Gastgebern dazu aufgefordert, einen eigenen Beitrag zu liefern. Ein böser Kreislauf. Doch das verschlüsselte Netzwerk ist für die Ermittler Herausforderung und Chance zugleich. Wie heißt es doch, das Internet vergisst nicht.

Doch das Problem Kindesmissbrauch darf nicht allein auf die Polizei abgewälzt werden. Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer fordert härtere Strafen für Kindesmissbrauch.

Münster ist die Zäsur, die die ganze Gesellschaft sensibilisieren muss. Bei Missbrauch und Gewalt gegen Kinder darf niemand mehr wegschauen oder zögern. Angehörige müssen sich aus ihrem Loyalitätskonflikt den Tätern gegenüber befreien. Sonst werden sie zu stillschweigenden Mittätern. Ehefrauen müssen ihre Männer anzeigen, Väter ihre Brüder, die Erzieherin muss die Kollegin melden, Nachbarn müssen auf das Wohl der Nachbarskinder achten. Lieber ein aufmerksamer Blick mehr als einer zu wenig.

Münster muss nachhaltige Folgen haben: Alle Institutionen müssen überprüft werden

Institutionen wie Gerichte, Jugendämter und Schulen müssen überprüft werden, ist das Personal wie Richter, Familienhelfer oder Lehrer ausreichend geschult, um Missbrauch zu erkennen? Sind Häuser gut genug ausgestattet, um Kinder vor Übergriffen schützen zu können?

Vor ein paar Wochen erinnerte der Deutsche Kinderschutzbund daran, die Kinder in der Corona-Krise nicht zu vergessen. Viele von ihnen hatten während der Beschränkungen keinen persönlichen Kontakt zu Lehrern, Erziehern oder Kinderärzten. Menschen, die unter normalen Umständen in unserer Gesellschaft eine Wächterfunktion übernehmen, denn sie sind es, die mehr als die Hälfte der Verdachtsfälle den Jugendämtern melden. Diese Meldungen fielen komplett aus.

Währen der Corona-Zeit waren die Kinder nur mir ihren Familie zusammen. Statistisch gesehen kommen 90 Prozent der Täter aus dem engen Umfeld des Kindes. Für diese Kinder gab es in den vergangenen drei Monaten kein Entkommen. Wie hoch der psychische und körperliche Schaden für diese kleinen Menschen in dieser Zeit gewesen ist, wird vielleicht nie herauskommen.

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