Nach 30 Jahren steht die Mauer noch immer in den Köpfen. Das Ruhrgebiet hat nicht selten neidisch gen Osten geschaut. Es ist Zeit, das zu ändern.

Wochen zuvor Genscher auf dem Balkon in Prag, die täglich wachsenden Wir-sind-das-Volk-Massen auf den Straßen, die keimende Hoffnung, dann Schabowskis „nach meiner Kenntnis ... unverzüglich“ und schließlich Menschen auf der Mauer – ist das alles wirklich schon 30 Jahre her? Jeder, der diese Nacht bewusst erlebt hat, weiß noch genau, wo er vom 9. auf den 10. November 1989 war und was er gemacht hat. Wo er gejubelt, getanzt oder als SED-Getreuer getrauert hat. Bei den meisten Menschen im Ruhrgebiet fällt die Erinnerung etwas unspektakulärer aus, sie saßen oder lagen auf dem Sofa, fernsehend, kopfschüttelnd, fragend, ob das jetzt wirklich eine Liveübertragung vom Brandenburger Tor ist?

Hat der junge Brite, den der Autor im Sommer in Frankreich getroffen hat und der seine Angst vor einer Wiedervereinigung der Deutschen betonte, einfach besser hingesehen als wir westdeutschen Skeptiker? Wer im Kalten Krieg aufgewachsen ist, mit Spionagethrillern, Atomkriegsängsten und einem Probealarm in der Schule, von dem die Lehrerin nichts wusste und rief: „Lauft Kinder, lauft weit weg, die Russen kommen“, der sah sich taumeln zwischen Freude und Zweifel. Bald kam die Skepsis dazu, ob das gut gehen kann. Ob Kohls Versprechen „blühender Landschaften“ nicht etwas dicke war? Wie verheiratet man zwei Geschiedene, wenn der eine glaubt, der andere sei um Jahrzehnte zurückgeblieben?

Kohls Griff in die Rentenkasse

Heute wissen wir um die vielen Fehler: der 1:1-Umtausch der Ostmark, Kohls Griff in die Rentenkasse, die Bevorzugung westdeutscher Unternehmer durch die Treuhand, nicht wenige davon geldgierig, kalt und rücksichtslos gegenüber den Menschen im Osten. Massenarbeitslosigkeit und das kollektive Gefühl der Enteignung und Geringschätzung waren Folgen, die bis heute nachwirken. Wäre der kritische Blick zurück inzwischen Konsens, fiele jener nach vorne leichter. Doch es wird verklärt, geschönt und geklittert. Im Jahr 2019 wählt der Osten rechts und zuckt die Schultern, wenn der Westen ihn dafür verspottet. Ob die Mauer auch in den Köpfen überwunden sei, wird wieder zu einer rhetorischen Frage.

30 Jahre Mauerfall – so berichteten wir 1989

Zeitungsseite der WAZ vom 10. November 1989.
Zeitungsseite der WAZ vom 10. November 1989. © Jörg Grunwald / WAZ FotoPool
Zeitungsseite der WAZ vom 11. November 1989.
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Zeitungsseite der NRZ vom 11. November 1989.
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Zeitungsseite der WP vom 11. November 1989.
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Zeitungsseite der WR vom 11. November 1989.
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Tief aus dem Westen ließe sich leicht urteilen, die Regierungen in Berlin und den Ostländern hätten versagt. Doch Neiddebatten haben nicht nur die Neubundesbürger geführt, sondern auch wir Nordrhein-Westfalen. Kohl pumpt alles Geld in den Osten, um wenigstens irgendwas zum Blühen zu bringen, ätzten nicht nur die Bürgermeister im Ruhrgebiet. Rechnen noch heute vor, wie viele Millionen ihre Stadt gen Osten geschickt hat, während hier die Schwimmbäder schließen und die Schulen verfallen.

Weder im Osten noch im Ruhrgebiet war jeder Euro klug angelegt

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Was diese Neiddebatte so gefährlich macht, ist ihr wahrer Kern: Der deutsche Föderalismus hat in den vergangenen Jahrzehnten den strukturschwachen Regionen im Westen nicht wirklich geholfen. Das Ruhrgebiet hat dabei unzählige Fehler selbst begangen, aber schon lange keine Chance mehr, sich am eigenen Schopf aus dem Schuldensumpf herauszuziehen. Nur macht das die Osthilfen nicht falsch. Sie waren bitter nötig. Und dass nicht jeder Euro klug und richtig angelegt war, lässt sich über die Subventionen fürs Ruhrgebiet ebenso sagen. Der Staat sollte sein Geld nicht nach Himmelsrichtung, sondern nach Bedarf verteilen – das ist heute Konsens, aber man hätte auch früher drauf kommen können.

Der 9. November 1989 änderte alles – Bilder vom Mauerfall

Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer den Ostteil vom Westteil der Stadt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Die Menschen ...
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer den Ostteil vom Westteil der Stadt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 wurde die Mauer geöffnet. Die Menschen ... © dpa
... kamen in Massen nach Westberlin und feierten ihre neue Freiheit. Im Laufe der ...
... kamen in Massen nach Westberlin und feierten ihre neue Freiheit. Im Laufe der ... © dpa
... nächsten Tage kamen immer mehr Ostberliner nach West-Berlin.
... nächsten Tage kamen immer mehr Ostberliner nach West-Berlin. © IMAGO
Freudentränen an der Grenze.
Freudentränen an der Grenze. © IMAGO
West-Berliner versuchten mit Hämmern, Kreuzhacken und den bloßen Händen die Berliner Mauer einzureißen.
West-Berliner versuchten mit Hämmern, Kreuzhacken und den bloßen Händen die Berliner Mauer einzureißen. © dpa
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit.
Ost-Berliner feierten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 ihre neue Freiheit. © IMAGO
Schlagbäume an der offenen Grenze zwischen Ost und West verloren am frühen Morgen des 10. Novembers ihre Bedeutung.
Schlagbäume an der offenen Grenze zwischen Ost und West verloren am frühen Morgen des 10. Novembers ihre Bedeutung. © dpa
Blumen zur Begrüßung: Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall.
Blumen zur Begrüßung: Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © IMAGO
Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall.
Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © IMAGO
Auf der West-Berliner Seite tummelten sich nach dem Mauerfall Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt.
Auf der West-Berliner Seite tummelten sich nach dem Mauerfall Fotografen und Kameraleute aus der ganzen Welt. © dpa
"Trabi-Kolonne" in Westberlin. Ost- und Westberliner feierten gemeinsam den Mauerfall. © dpa
Blumen für die DDR-Grenzsoldaten von einem West-Berliner Polizisten.
Blumen für die DDR-Grenzsoldaten von einem West-Berliner Polizisten. © dpa
Weg in die Freiheit: In Massen kletterten die Menschen über die Berliner Mauer, um nach West-Berlin zu kommen.
Weg in die Freiheit: In Massen kletterten die Menschen über die Berliner Mauer, um nach West-Berlin zu kommen. © IMAGO
Menschenmassen am Grenzübergang Bernauer Straße in Berlin: Millionen DDR-Bürger reisten nach Öffnung der Mauer für einen kurzen Besuch in den Westen.
Menschenmassen am Grenzübergang Bernauer Straße in Berlin: Millionen DDR-Bürger reisten nach Öffnung der Mauer für einen kurzen Besuch in den Westen. © dpa
Schlange stehen für das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM, das die DDR-Bürger erhielten.
Schlange stehen für das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 DM, das die DDR-Bürger erhielten. © IMAGO
Bananen für den Osten: Am Tag nach der Maueröffnung nutzten einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von exotischen Südfrüchten.
Bananen für den Osten: Am Tag nach der Maueröffnung nutzten einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von exotischen Südfrüchten. © IMAGO
Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor im Jahre 1989.
Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor im Jahre 1989. © IMAGO
Kein Grenzposten konnte die Menschenmassen noch aufhalten.
Kein Grenzposten konnte die Menschenmassen noch aufhalten. © IMAGO
Als die Mauer offen war, brach Jubel unter den DDR-Bürgern aus.
Als die Mauer offen war, brach Jubel unter den DDR-Bürgern aus. © IMAGO
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer Ost- und Westberlin.
Von 1961 bis 1989 trennte die Berliner Mauer Ost- und Westberlin. © IMAGO
Nach Öffnung der Mauer eroberten die DDR-Bürger den Kurfürstendamm in Berlin.
Nach Öffnung der Mauer eroberten die DDR-Bürger den Kurfürstendamm in Berlin. © IMAGO
DDR-Grenzwachen vor dem Brandenburger Tor, wenige Tage vor dem Fall der Mauer. Zu dem Zeitpunkt kam hier noch niemand durch.
DDR-Grenzwachen vor dem Brandenburger Tor, wenige Tage vor dem Fall der Mauer. Zu dem Zeitpunkt kam hier noch niemand durch. © IMAGO
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Die Einheit in den Köpfen lässt sich wohlfeil beschwören, erreicht wird sie nur mit der zu vorschnell versprochenen Angleichung der Lebensverhältnisse. Dafür braucht es weiter Strukturhilfen, aber auch eine Altschuldentilgung – überall dort, wo dies nötig ist. Gleichzeitig muss endlich klar werden, dass damit nicht gemeint sein kann, jeder Region, jeder Stadt und jedem Dorf den gleiche Wohlstand zu bringen. Es wird immer stärkere und schwächere Regionen geben. Was gleich werden muss, sind die Chancen in jeder Region, die Lebensqualität ihrer Bürger zu verbessern. Das dürfen die Menschen im Ruhrgebiet mit Fug und Recht fordern – sollten es aber ihren Mitbürgern in Ostdeutschland nicht weniger wünschen.