Die türkische Offensive in Kurdistan destabilisiert die ganze Region. Hochgefährlich, auch für uns, kommentiert NRZ-Politikchef Jan Jessen.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten gegen Nordsyrien geht mit unvermittelter Härte weiter. In den vergangenen Tagen war viel über den Verrat des Westens, speziell der USA, an den Kurden zu lesen, die in den vergangenen Jahren die Hauptlast der Kämpfe gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) getragen haben. Und, ja, es gibt kein Vertun. Die Welt ist Augenzeugin eines kaltblütigen und verabscheuungswürdigen Verrates geworden.
Nun ist aber Moral keine Währung, mit der Nationen in ihrer Außenpolitik zahlen. Es geht stets um Interessen. Doch auch ganz nüchtern betrachtet, ist der Verrat des Westens an den Kurden töricht. Der türkische Einmarsch in Nord-Syrien wird den Feinden des Westens in die Karten spielen. Die Kurden haben zur Verteidigung ihrer Heimat Kräfte bereits abziehen müssen, die bislang die Gefängnisse und Lager bewachen, in denen insgesamt rund 100.000 IS-Gefangene inhaftiert sind, darunter Tausende brandgefährliche Ausländer.
Wenn die IS-Lager befreit werden können, gefährdet das unsere Sicherheit
IS-Anführer Abu Bakr al Baghdadi hatte in seiner jüngsten Audio-Botschaft zur Befreiung dieser Gefangenen aufgerufen. Fiele ein Lager wie Al Hol dem IS in die Hände, wo allein 70.000 teils ultraradikale Angehörige von IS-Kämpfern untergebracht sind, würde das der Terrororganisation propagandistisch wie militärisch einen enormen Aufschwung geben. Womit sich auch die Sicherheitslage in Europa drastisch verschlechtern würde.
Zweitens bleibt den Kurden in der derzeitigen Situation keine andere Wahl, als sich dem syrischen Regime und damit auch dessen Verbündeten Russland und den Iran anzunähern.
Die Kurden könnten sich wieder Assad und damit dem Iran zuwenden
In den vergangenen Jahren war dieses Verhältnis trotz der brutalen Unterdrückung der Kurden durch das Assad-Regime in der Zeit vor dem Ausbruch des Kriegs von Pragmatismus geprägt. Es gab eine Art militärisches Stillhalteabkommen und wirtschaftliche Beziehungen.
Kommt es nun zu einer weitergehenden Kooperation, gar einem gemeinsamen militärischen Vorgehen, wird das die Position Assads stärken und damit auch den iranischen Einfluss in der Region zementieren – samt der damit verbundenen wachsenden Bedrohung Israels.
Unsere Verbündeten in der Region verlieren das Vertrauen in den Westen
Drittens löst der türkische Angriff eine erneute Flüchtlingswelle aus. Bereits der Angriff auf die kurdische Enklave Afrin Anfang vergangenen Jahres trieb bis zu 120.000 Menschen in die Flucht. Diesmal werden sich deutlich mehr Menschen zu retten versuchen, ihr Ziel wird die kurdische Autonomieregion im benachbarten Irak sein. Dort leben bereits Hunderttausende Flüchtlinge.
Die irakische Kurdenregion mit ihren ursprünglich fünf Millionen Einwohnern gilt noch als ein Hort der Stabilität in einer unruhigen Region. Das könnte sich ändern, wenn die Aufnahmekapazitäten Irakisch-Kurdistans überdehnt werden.
Viertens werden es sich potenzielle Verbündete des Westens in künftigen Konflikten zweimal überlegen, ob sie sich auf eine Kooperation mit einem so unzuverlässigen Partner einlassen.