Essen. . Die NRW-SPD zeigt nach dem Wahldebakel auf Nahles. Nun ist sie zurückgetreten. Der geforderte Linksruck war ein Fehler. Eine Meinung.

Die Sozialdemokraten verlieren eine Wahl nach der anderen. Und nach jedem Debakel diskutieren sie über ihre Führung und deren Festhalten an der GroKo. Aktuell wurde Andrea Nahles für die abermals historische Schlappe bei der Europawahl verantwortlich gemacht. Nun ist sie zurückgetreten. Es ist höchste Zeit, dass die Sozialdemokraten nun in den Spiegel schauen.

Tatsächlich scheint die SPD sehenden Auges in die GroKo-Falle getappt zu sein, was ihr 2017 viele prophezeit hatten. Und tatsächlich ließ die Parteivorsitzende es nach der Wahl an Einsicht, Demut und Wegweisung vermissen. Nur: Wann eigentlich stellen die Klage führenden SPD-Politiker in den Landtagen, Stadträten und Ortsvereinen ihren eigenen Kurs infrage? Wo bleibt ihr Spiegelblick, wenn sie fordern, alles müsse jetzt auf den Tisch und hinterfragt werden? Wie wäre es etwa mit dieser Frage: Warum hat die SPD in den Ruhrgebietsstädten deutlich mehr verloren als im Bundesschnitt? Wirklich nur wegen Nahles?

Die Lust auf Politik wächst, nur nicht bei SPD-Wählern

Der lange von der Basis und inzwischen von fast allen Landesverbänden, allen voran dem größten in NRW, geforderte Linksruck findet in der Bundespartei doch seit Jahren statt. Andrea Nahles und nun auch Sozialminister Hubertus Heil stehen wie kaum jemand anderes für die Rückabwicklung der Agenda 2010 und der Hartz-Gesetze, wie es auch NRW-Fraktionschef Thomas Kutschaty gefordert hat. Wie sehr das der SPD bei den Wahlen geholfen hat, ist für jeden einsehbar: nicht im geringsten. Statt mit jedem Linksruck Wähler von der Linkspartei zu gewinnen, verliert die SPD scharenweise Anhänger an die immer bürgerlicher auftretenden Grünen – und noch mehr an das schwarze Loch der Nichtwähler. Während sich insgesamt mehr Deutsche für Politik interessieren, vor allem die Jüngeren, verlieren Abertausende SPD-Anhänger die Lust daran.

Thomas Kutschaty, nordrhein-westfälischer SPD-Fraktionsvorsitzender, plädiert für die Abschaffung von Hartz IV, der vor allem im Ruhrgebiet verhassten Sozialreform des letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder.
Thomas Kutschaty, nordrhein-westfälischer SPD-Fraktionsvorsitzender, plädiert für die Abschaffung von Hartz IV, der vor allem im Ruhrgebiet verhassten Sozialreform des letzten SPD-Kanzlers Gerhard Schröder. © Johannes Neudecker,dpa

Woran das liegt, wird kein Wahlempiriker jemals ganz genau feststellen können. Dass aber das seit Jahren ewig gleiche Thema soziale Gerechtigkeit nach SPD-Art nicht mehr verfängt, ist allzu offensichtlich. Und das sicher nicht, weil die Leute keine soziale Gerechtigkeit mehr wollen. Sondern weil diese bei der SPD nie die gesamte Gesellschaft meint, sondern stets nur die aufgrund von Arbeitslosigkeit, Niedriglöhnen oder niedrigen Renten offenkundig sozial Benachteiligten.

Sich um sie zu kümmern, ist und bleibt natürlich erste Pflicht der SPD und sollte dies auch für jede andere Partei sein, die das Gemeinwohl und den sozialen Frieden im Land bewahren will. Wenn es aber einer wachsenden Mehrheit in Deutschland verhältnismäßig gut und tendenziell immer besser geht, sollte sich eine ehemalige Volkspartei, die wieder eine werden will, irgendwann auch mal um die Mehrheit kümmern. Sie versucht das mit Rentenversprechen. Doch erstens bieten andere immer mehr. Und zweitens fühlen sich die jüngeren Generationen dabei im Stich gelassen und fragen zurecht: Was habt ihr für uns im Angebot?

Unterbeschäftigung hat sich seit 2005 halbiert

Die Arbeitslosigkeit hat sich in Deutschland seit 2005 halbiert. Und zwar nicht nur die offizielle, die gern und nicht zu Unrecht als geschönt kritisiert wird, sondern auch die alle herausgerechneten Gruppen umfassende Unterbeschäftigung. Die traf 2005 noch 6,1 Millionen Menschen in Deutschland, aktuell sind es 3,1 Millionen.

Wie sehr das an der Agenda 2010 von Gerhard Schröder liegt, dem vielleicht nicht ganz zufällig letzten SPD-Kanzler, ist umstritten. Für die gute Konjunktur und die kluge Tarifpolitik von Gewerkschaften und Arbeitgebern mit dem Ziel, Arbeitsplätze auch in Krisen zu erhalten, kann der Erfinder der „neuen Mitte“ sicher nichts. Dass seine Agenda mit Senkung der Lohnnebenkosten, der Rentenreform und den Hartz-Gesetzen den inzwischen zehnjährigen deutschen Aufschwung aber eher befördert als behindert hat, stellen heute die wenigsten Ökonomen infrage.

Gerhard Schröder raucht im Dezember 1998 nach gewonnener Bundestagswahl
Gerhard Schröder raucht im Dezember 1998 nach gewonnener Bundestagswahl © Werner Baum, dpa

Eine Folge dessen ist auch eine Rekordbeschäftigung, die keineswegs nur auf Mini- und Teilzeitjobs fußt, sondern seit zwei Jahren vermehrt aus unbefristeten Vollzeitstellen, dem bereits als überholt abgestempelten „Normalarbeitsverhältnis“. Löhne, Kaufkraft und -laune sind Jahr für Jahr gestiegen. Doch die SPD hat genau wie die Linkspartei nur die realen, aber nicht die Erfolge überlagernden Verwerfungen beklagt. Anstatt sich ihren verdienten Anteil am Aufschwung ans Revers zu heften. „Hartz muss weg“ wird aber immer der Slogan der Linken bleiben und der SPD in diesem Jahrhundert nicht mehr helfen.

Zahlenopportunisten weisen zudem darauf hin, dass ausgerechnet die von der SPD als Kernwählerschaft umworbenen Arbeitslosen und Geringverdiener kaum noch wählen gehen. Und wenn, wählen sie lieber Linke oder AfD. Bei der Europawahl hat sich die SPD laut ARD-Daten bei den Arbeitslosen von 28 auf 14 Prozent der Stimmen glatt halbiert. Sich deshalb nicht mehr um sie zu kümmern, wäre aus Sicht der SPD zynisch und grundfalsch. Die eigene Zielgruppe zu vergrößern, aber sicher nicht.

SPD im Ruhrgebiet von Beginn an gegen Agenda 2010

Die SPD hat sich gerade im Ruhrgebiet von Anfang an schwer getan mit Schröders Agenda-Politik und von allen weiteren Parteichefs eine scharfe Kurswende gefordert. Das war und ist verständlich, weil die Hartz-Gesetze im Ruhrgebiet mit seinen vielen Langzeitarbeitslosen nun einmal besonders viele Menschen treffen. Der Zweiklang aus Fordern und Fördern war von Beginn an wenig harmonisch. Gefordert wurde viel, um möglichst viele Arbeitslose etwa durch Maßnahmen oder Ein-Euro-Jobs aus der Statistik zu streichen. Das Fördern kam dagegen zu kurz.

Inzwischen sind aber viele Ecken und Kanten geschliffen worden, und der Aufschwung hat gerade in jüngster Vergangenheit auch die Reihen in den Jobcentern erkennbar gelichtet. Dass die Kutschaty-SPD in NRW nun Hartz IV abschaffen will, ist Ausdruck purer Verzweiflung.

Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski setzt auf neue Themen.
Gelsenkirchens Oberbürgermeister Frank Baranowski setzt auf neue Themen. © Martin Möller

Ausgerechnet Gelsenkirchens Oberbürgermeister Baranowski, also der Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit, hat als einziger nach der Wahl mehr über Themensetzung als über Nahles gesprochen. Klimaschutz, Entschuldung der Städte und Zuwanderung wären doch auch gute Themen für eine Volkspartei, meinte er. Wie recht er hat. Familie, Bildung und Wirtschaft sind ebenfalls Mehrheitsthemen. Die SPD hat ja Ideen dafür, nur sollte sie diese irgendwann mal ganz nach oben statt hintanstellen. Und so die Mitte neu entdecken.