“Lügde“ muss für die NRW-Polizei so etwas werden wie vor 30 Jahren das Gladbecker Geiseldrama: der traurige Anlass, alles in Frage zu stellen.

Der monströse Missbrauchsfall von Lügde sollte in der Landespolitik und NRW-Polizei eine Reformbereitschaft entfachen wie das Gladbecker Geiseldrama vor 30 Jahren. Damals nahm man katastrophale Einsatzfehler zum Anlass, Zuständigkeiten neu zu ordnen und Organisationsabläufe zu verändern. Nach „Lügde“, das schon jetzt zur Chiffre geworden ist für jahrelange Verbrechen an Kindern und schlimme Behördentölpelei, erschöpft sich die Debatte bislang in Schuldzuweisungen. Innenminister Reul, obwohl oberster Dienstherr, ließ die völlig überforderte Kreispolizei Lippe wochenlang vor sich hin dilettieren und stellte sie danach an den Pranger. „Null Toleranz nach innen“, nennt er das. Es werden Sonderermittler losgeschickt, Stabsstellen im Ministerbüro gegründet und womöglich noch Gedanken in der „Bosbach-Kommission“ gewälzt.

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Dabei liegt der Großbefund lange auf dem Tisch: Mehrere Gutachter bescheinigen dem Land seit Jahren, dass die bundesweit einmalige Polizeistruktur mit 47 Kreispolizeibehörden und der Unwucht zwischen einer Mini-Behörde wie Olpe und dem Riesenpräsidium Köln nicht mehr zeitgemäß ist. 29 Landräte als Polizeichefs und ein kompliziertes Erlass- und Verordnungssystem zur Übernahme von Ermittlungen ebenfalls nicht.

Zumal die Kripo in NRW auf der letzten Rille fährt. Die von der Regierung Laschet so gefeierten Polizei-Rekordeinstellungen werden wegen Pensionierungswelle und Ausbildungslänge hier frühestens kurz vor der übernächsten Landtagswahl spürbar sein. Die Stellenverteilung nach Fallzahlen und die politische Fixierung auf die jährliche Kriminalitätsstatistik wirken anachronistisch. Die wirkliche Gefahrenabwehr erfolgt heute im Internet und in der Überwachung von Terrorverdächtigen oder rückfallgefährdeten Straftätern. „Lügde“ gäbe Anlass, etwas tiefer zu schürfen.