Die neue Regierung muss liefern, die Opposition auch. Nur gemeinsam können sie der AfD die Stirn bieten
Deutschland hat gewählt. Unterm Strich steht ein bemerkenswertes Ergebnis. Weil die SPD als großer Wahlverlierer den Weg in die Opposition antritt und auch die Union ein historisch schlechtes Ergebnis einfuhr. Weil ein Jamaika-Bündnis aus Union, FDP und Grünen möglich ist. Und weil die Alternative für Deutschland als drittstärkste Kraft mit breiter Brust Einzug hält in den Deutschen Bundestag: Vier Jahre lang werden dort Abgeordnete sitzen, von denen sich etliche im Wahlkampf und auch zuvor mit Sprüchen und Statements als Neonazis und Rassisten geoutet haben.
Der Erfolg der AfD ist eine politische Zäsur. Es gibt einen klaren Rechtsruck im deutschen Parlament. Eine Herausforderung, für die deutsche Demokratie, den Bundestag und die Abgeordneten der demokratischen Parteien. Sie müssen die AfD stellen. Die Fraktion wird isoliert, aber wegen ihrer Größe nicht zu ignorieren sein. Spitzenkandidat Alexander Gauland kündigte gestern an, die Kanzlerin „jagen“ und Deutschland dem Volk zurückgeben zu wollen. Ein erster Vorgeschmack von dem, was in den kommenden vier Jahren ansteht. Dass unsere Demokratie dies gut und sicher aushalten wird, steht außer Frage, weil sie stark und gesund ist – eine AfD wird Deutschland als lebenswertes Land nicht in eine Krise stürzen – wohl aber auf die Probe stellen.
Die Wahl liefert die Erkenntnis, dass viele AfD-Wähler die Große Koalition abstrafen wollten und in den etablierten kleineren Parteien keine Alternative sahen. 14 Prozent verloren Union und SPD: ein vernichtendes Urteil über die Regierungsarbeit und die Überzeugungskraft im Wahlkampf. Angela Merkel steht unter Druck, sie wird mit neuen Partnern regieren müssen. Kommt Jamaika, muss sie Union, FDP und Grüne auf Kurs halten. Dass die Verhandlungen scheitern, ist möglich, aber unwahrscheinlich. Neuwahlen können nicht das Ziel Merkels und ihrer Verhandlungspartner sein. Die Kanzlerin aber muss sich hinterfragen und ihren Kurs korrigieren. Das verlangen die Wähler in aller Deutlichkeit.
Die auf Minimalmaß gestutzten Sozialdemokraten wiederum haben in der schweren Niederlage politische Größe bewiesen, weil sie in die Opposition gehen. Die Parteibasis wird sich damit sehr gut anfreunden können. Vier weitere Jahre als Juniorpartner in der Großen Koalition hätten wie ein schleichendes Gift der Zersetzung gewirkt. Als Oppositionsführerin im Bundestag kann die SPD ihr kaum mehr wahrnehmbares sozialdemokratisches Profil neu herausarbeiten und sich wieder als ernstzunehmende politische Kraft profilieren.
Die Entscheidung bedeutet auch, der AfD nicht die Rolle als größte Oppositionspartei zu überlassen. Die SPD scheint bereit, die Lehren zu ziehen und zugleich politische Verantwortung zu tragen. Sich erneuern, wieder an Größe gewinnen: Unter Führung von Martin Schulz geht die SPD eine Mammutaufgabe an. Niemanden hätte überrascht, hätte der SPD-Vorsitzende hingeworfen oder ihn die Parteispitze zum Rücktritt gedrängt. Doch Schulz will nicht aufgeben. Der Wahltag war für die Partei ein Debakel ohnegleichen. Doch sie ist willens, wieder aufzustehen. In der größten Krise steckt für die Sozialdemokraten daher die größte Chance.
Deutschland hat gewählt. Die AfD schreibt Geschichte. Die Große Koalition ist Geschichte. Eine schlechte, eine gute Nachricht. Die neue Regierung unter Merkel muss liefern, die Opposition auch. Nur gemeinsam können sie der AfD die Stirn bieten. Kurzum: Die Demokratie in Deutschland muss sich ernsthaft beweisen.