Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat einmal mehr seinen Armutsbericht vorgelegt. Ergebnis: Knapp ein Fünftel der Deutschen lebt unter der Armutsgrenze, Tendenz rasant steigend, und die Vermögen konzentrieren sich immer mehr bei den reichsten zehn Prozent. Das kann man als Alarmismus einer Organisation abtun, die sich als Lobbyistin der Schwachen versteht; und ja, es ist richtig, dass ein Single mit rund 900 Euro im Monat nicht zum Hungern verurteilt ist, obwohl er als arm gilt. Armut ist relativ, Deutschland ist noch lange kein Entwicklungsland. Die gesellschaftliche Realität sollte trotzdem nicht schön geredet werden. Das wäre fahrlässig und gefährlich.

Diese Realität sieht so aus: Immer mehr Menschen sind in den vergangenen Jahren zu Almosenempfängern geworden, die sich und ihre Familien mit Hilfe der Tafeln, den modernen Suppenküchen, ernähren müssen. Immer mehr Menschen wird der Strom abgedreht, weil sie die Rechnungen nicht mehr zahlen können. Immer mehr Ältere müssen Grundsicherung beantragen. Mit Vollzeitjobs können viele Erwerbstätige kein auskömmliches Einkommen erwirtschaften. Die Kluft zwischen unten und oben wird immer größer.

Das mag alles prima für die internationale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands sein: Aber selbst beinharte Kapitalisten sollten von der Entwicklung nicht begeistert sein, die die Steuersenkungsorgien zugunsten der Reichen in den vergangenen Dekaden und die Hartz-Gesetzgebung in Gang gesetzt haben. Das Versprechen der freien und sozialen Marktwirtschaft lautet: Aufstieg, bescheidener Wohlstand für alle und die gerechte Verteilung von Vermögen sind möglich und erwünscht. Wenn Menschen diesem Versprechen nicht mehr glauben können, wird dem System die Legitimations- und damit die Geschäftsgrundlage entzogen.

Wo Angst vor Abstieg den Geist vernebelt, wuchern fremdenfeindliche Ressentiments und die Wut auf die etablierte Politik in die bürgerliche Mitte hinein. Dresden kommt nicht von ungefähr, genauso wenig die Wahlerfolge der AfD. Noch schlimmer: Eine Generation von Abgehängten ist der Humus, in dem mörderischer Fanatismus gedeiht. Diejenigen, vor denen wir jetzt zittern, weil sie in Syrien oder im Irak kämpfen und irgendwann vielleicht wieder voller Hass auf die Gesellschaft zurückkommen, sind zum allergrößten Teil die Verlierer, die ein System in sozialer Schieflage zwangsläufig produziert.

Diese Schieflage zu begradigen, sollte deswegen im Sinne aller sein, auch der Gutverdiener und Vermögenden. Sozialpolitik ist letztlich immer auch Sicherheitspolitik.