Herdecke. . Was bringt einen jungen Menschen dazu, sich selbst so zu hassen, dass er sich selbst blutende Schnittwunden zufügt? Eine Zeus-Reporterin hat sich mit einem Mädchen unterhalten, das es getan hat.
Manchmal kommt es vor, dass sich Jugendliche selbst mit scharfen Gegenständen verletzen. Das nennt man dann „ritzen“. Zeus-Reporterin Nora Paulsen hat ein 14-jähriges Mädchen interviewt, welches sich selbst aus der Sucht befreit hat.
Wie hat alles angefangen?
Zuerst habe ich mich gar nicht geritzt. Am Anfang ging es mir immer schlechter und ich fing an, mich selbst zu hassen. Ich habe mich so unendlich gehasst. Ich fand mich immer zu dick, viel zu dick. Probleme in der Schule, mit Freunden und Familie unterstützen den Drang, mein Leben einfach zu beenden. Zu beenden heißt, irgendwann einfach von der Brücke zu springen. Im Internet fand ich viele, die mich verstanden. Viele von den Freunden haben sich auch geritzt, und so bin ich auf das Ritzen gekommen und wollte es zuerst nur einmal ausprobieren.
Wie haben deine Familie und Freunde reagiert, als sie es erfahren haben?
Meine Mutter war geschockt. Ich habe ihr nie etwas erzählt, doch irgendwann hat sie die Narben an meinem Arm gesehen. Von meinen Freunden haben sich manche unendlich Sorgen gemacht und mich angeschrien, ich solle es nie wieder machen. Ich konnte es ihnen natürlich nicht verübeln, aber die Worte hatten für mich keine Bedeutung mehr. Ich war schon zu tief gefallen, um aufzuhören. Ich liebte dieses Gefühl, sich hinter dem Schmerz zu verstecken, dass ich wahrscheinlich alles dafür aufgegeben hätte. Kannst du das Gefühl beschreiben, wenn du dich ritzt?
Es ist befreiend. Wenn die Klinge in deine Haut eingedrungen ist und du siehst, wie das Blut herausfließt. Du liebst diesen Schmerz, du denkst, du verdienst es nicht anders. Du fängst an, dieses Gefühl, diesen Kitzel, das Schicksal entscheiden zu lassen ob du leben oder sterben darfst, zu lieben. Du sehnst dich nach dem Tod. Du wünscht dir nichts mehr, als irgendwann einmal am Ritzen zu sterben, weil dir der Rest egal ist.
Hat dich jemand unterstützt, als du da rauskommen wolltest?
Soweit ich mich erinnern kann, waren alle da. Aber egal, wie viel Unterstützung man von außen bekommt, im Endeffekt muss man selbst daraus kommen.
Hat sich das Verhalten anderer Schüler oder Lehrer im Umgang mit dir verändert?
Am Anfang schon. Einige haben mich angestarrt, als käme ich vom Mars. Sie konnten es vollkommen nicht nachvollziehen. Manche wollten gar nichts mehr mit mir zu tun haben, weil sie dachten, ich gehörte in die Klapse. Und wieder andere haben sich mir genähert und wollten mir helfen. Dabei konnte ich auch gut sehen, wer „wirkliche“ Freunde sind und wer nicht. Aber jetzt ist eigentlich alles wieder so wie früher, nur dass sich meine Freunde geändert haben.
Bist du glücklicher, seit du aufgehört hast?
Ja, um einiges. Es hat mein Selbstbewusstsein sehr gestärkt, dass ich da ohne psychiatrische Hilfe rausgekommen bin. Ich habe mich selbst besser kennengelernt und weiß, wo meine Grenzen liegen. Im Nachhinein würde ich sagen, dass es der größte Fehler meines Lebens war, denn die Narben werden immer bleiben. Außerdem habe ich nach der ganzen Sache gemerkt, dass ich mich nie umgebracht hätte, nie. Im Endeffekt, war es nie das wirkliche Ich, was aus mir gesprochen hat.
Würdest du es noch einmal machen?
Nein, ich habe keinen Grund. Was kann mein Körper dafür, dass ich mich so schlecht fühle? Ohne meinen Körper könnte ich nicht leben, also warum sollte ich ihm noch zusätzliche Arbeit machen? Egal, wie befreiend dieses Gefühl ist, ich will nie wieder so tief fallen und hoffe, dass jeder, der sich auch ritzt, da rauskommt. Das Leben ist zu kurz und zu wertvoll, um es wegzuwerfen.
Nora Paulsen
Klasse 8
Friedrich-Harkort-Schule
Herdecke