Gelsenkirchen. . Offen, ehrlich und selbstkritisch berichtet Sandra, wie es ist, viel zu dick zu sein. Und wie hart es manchmal ist, gegen das krankhafte Übergewicht und für den Traum von einem „normalen“ Leben zu kämpfen.
Oft liest man, dass die Zahl der Übergewichtigen immer mehr steigt – was natürlich aus gesundheitlicher und ästhetischer Sicht nicht in das Weltbild vieler Menschen passt. Doch fragt jemand nach den Hintergründen? Oft leiden die Übergewichtigen stark unter dem gesellschaftlichen Druck, dem sie ausgesetzt sind.
Manche finden es vielleicht einfach schön, dick zu sein – da kann man nichts gegen sagen. Der Großteil der Übergewichtigen aber wünscht sich ein normales Leben, ohne Einschränkungen. Übergewicht oder im fortgeschrittenen Stadium auch Adipositas genannt ist eine Krankheit, die oft viele Gründe hat. Zum einen möglicherweise ein schlechter Stoffwechsel, zum anderen liegt es vielleicht in der Familie.
Oft vergisst man den psychischen Aspekt, Übergewicht fängt meist mit ein paar Kilogramm über dem Normalwert an, steigert sich meist im Laufe der Zeit und ist dann der ständige Begleiter der Betroffenen.
Mein Name ist Sandra, ich bin 21 Jahre alt und seit meiner Kindheit übergewichtig. Wenn ich Bilder von meiner Kindheit sehe, erschüttert es mich, dass ich mich schon damals zu dick gefühlt habe. Heute habe ich bei einer Größe von 1,80 Meter ein Gewicht von etwa 180 Kilogramm.
Essen gegen die Angst
Mein Kampf begann bereits im Jugendalter. Ich war mehrfach in Therapie und ärztlicher Behandlung, habe zig Diäten ausprobiert, war unter anderem auch bei den Weight Watchers.
Auf Dauer hat aber nichts davon geholfen. Ich war essgestört und habe aus Frust gegessen. Ich habe auch aus Angst, Trauer und Wut gegessen. Das Essen war mein kleines Seelenheil.
Mit meinen 21 jungen Jahren leide ich an Gelenk- und Rückenschmerzen, habe bei kleinen Strecken Atemnot, nutze für den ersten Stock bereits den Aufzug und kämpfe jeden Tag, wenn ich zum Bus laufen muss. Die Blicke der Menschen versuche ich zu ignorieren. Aber ich weiß längst, was das für Gedanken sind und habe sogar Verständnis für ihr Missfallen.
Vor zwei Jahren, im April 2010 hatte ich mein erstes Gespräch mit einem Chirurgen der Adipositas-Chirurgie. Ich hatte für mich beschlossen, dass ich mich operieren lassen will. Es ist ein enormer Eingriff, mit großem Risiko, aber er wird meine Lebensqualität verbessern.
Kampf mit der Krankenkasse
Ich sollte nach dem psychiatrischen Gutachten erst mal psychisch stabil werden, sechs Monate Drogenfreiheit nachweisen und eine Ernährungsberatung machen. Ich bin privat versichert und zwei Träger müssen meine Anträge bewilligen – gar nicht so einfach.
Angefangen damit, dass die Kasse die Ernährungsberatung nicht zahlen wollte, weil es keine nötige Behandlung sei, lehnte die Kasse später auch den Antrag auf Kostenübernahme des Magenbypasses ab. Ich hätte nicht genug dafür getan und muss ein multimodales Konzept erfüllen: Sechs Monate Ernährungsberatung, Verhaltenstherapie und Sport, alles begleitet von einem Hausarzt.
Ich müsste mich halbieren. Die Kassen haben ihre Vorschriften, aber was sieht der Mensch, der meinen Antrag in die Hände bekommt von meinem Leben? Ein Blatt Papier und vielleicht ein Foto, dass ich freiwillig beigefügt habe. Woher bekommt er einen Eindruck, ob ein Eingriff nötig ist, oder nicht? Das steht auf diesem Papier nicht, denn da steht nicht, wie ich mich fühle, wenn die Menschen mich mit abwertenden Blicken strafen. Genauso wenig fühlt er, wie es sich anfühlt, wenn nach zehn Stufen das Herz rast und man das Gefühl hat zu ersticken. Halbieren? Hausärzte und Chirurgen haben unabhängig voneinander gesagt, dass es unmöglich sei, auf natürlichem Weg eine solche Menge abzunehmen.
Der zuständige Amtsarzt, der mich untersuchen sollte, war ebenfalls der Meinung, ich solle es vorher ambulant weiter versuchen. Man muss psychisch stabil sein, für einen solchen Eingriff – so lauten die Vorschriften.
Kein Wundermittel
Was bedeutet psychisch stabil? Ich bin so stabil, wie man es als stark eingeschränkter Mensch sein kann, der nur flüchtig am Leben teilhaben kann. Mir und auch vielen anderen Betroffen stellt sich immer öfter die Frage, wieso die Krankenkassen so wenig für die Prävention machen. Man scheint zu gesund zu sein, wenn man noch nicht unter Bluthochdruck, Diabetes oder bleibenden Gelenkproblemen leidet. Bedeutet das, man muss erst einen Herzinfarkt haben, bevor man es wert ist, dass Medikamente und Behandlungen bezahlt werden?
Und dann sind da noch die vielen Kritiker von solchen Eingriffen: „Sie können auch so abnehmen, wenn sie das wirklich wollen.“ Oder: „Solche Operationen sind nur da, weil die ‘Dicken’ zu faul sind, was dafür zu tun.“
Oder auch Ärzte, die natürliche Diäten bevorzugen. Zuletzt war ich beispielsweise bei einem Allgemeinmediziner, der auch auf Ernährung spezialisiert ist, er spricht sich gegen diese Eingriffe aus und will mich stattdessen komplett auf Formelnahrung umstellen – Pulverdiät, ein Leben lang.
Ich bin überzeugt davon, dass diese Operation die richtige Wahl für meine Situation ist. Das Leben zu leben ist mein Wunsch. Ich weiß, welche Risiken dieser Eingriff mit sich bringt und ich weiß auch, dass ich danach mein ganzes Leben auf Vitamintabletten etc. angewiesen bin, weil bei der Magenbypass-Methode der Magen komplett umgangen und der Dünndarm verlängert wird.
Es ist kein Wunderheilmittel und der Weg ist lang und steinig. Doch am Ziel sehe ich die gewünschte Lebensqualität auf mich warten. Ich werde weiter kämpfen. Für den Traum von einem normalen Leben.
Und an alle, die da draußen auch für ihren Traum kämpfen, wie auch immer der aussieht: Macht weiter so, ihr seid etwas Besonderes und lasst euch nicht das Gegenteil einreden. Ihr seid es wert.
Sandra Kirsten, Klasse Ks2e, Weiterbildungskolleg Emscher-Lippe, Gelsenkirchen