Düsseldorf/Pskow. Tausende Kilometer von ihrem gewohnten Leben entfernt hat Zeus-Reporterin Anna Carolin Hauke ganz besondere Erfahrungen in der russischen Stadt Pskow gesammelt: Sie hat sich den Alltag von Kindern mit Behinderungen angeschaut, die dort eine heilpädagogische Schule besuchen.
„Wie ein Märchen“, so lautet der Titel eines Videos auf der Internetseite der evangelischen Kirche im Rheinland, das ich gesehen hatte. Darin geht es um das Heilpädagogische Zentrums (HPZ) in Pskow, das es jetzt seit 20 Jahren gibt.
Am Anfang der Geschichte des HPZ stand eine persönliche Begegnung des Oberkirchenrates Klaus Eberl Anfang der 90er Jahre mit einer russischen Familie, der ein schlimmes Schicksal drohte: Ihr behindertes Kind sollte in einem Heim untergebracht werden, in dem die Bedingungen nicht gerade ideal waren. Zusammen mit den Eltern entstand die Idee, eine Schule zu gründen und so einen Beitrag zur Integration behinderter Kinder zu leisten.
Unbestellte Felder und verlassene Häuser
Zunächst glaubte niemand so recht an die Verwirklichung der Idee. Eine Mutter sagt heute nach 20 Jahren: „Es war wie ein Märchen“. Angeregt durch das Video über das Projekt in Pskow und offen für neue kulturelle Erfahrungen, bin ich mit meiner Familie in den Herbstferien dorthin gereist. Den Kontakt zum HPZ hat Klaus Eberl hergestellt, der ein Bekannter meiner Familie ist. Zunächst ging es mit dem Flugzeug nach St. Petersburg, danach wurden wir von einem Mitarbeiter des HPZ mit dem Auto nach Pskow gebracht.
300 Kilometer Wegstrecke führten uns von St. Petersburg aus immer weiter weg von unserem gewohnten Leben. Entlang der Straße sahen wir kahle Bäume, unbestellte Felder, vereinzelt wenige Häuser, viele davon verlassen. Nach fünf Stunden Autofahrt erreichten wir dann endlich in der Dunkelheit Pskow, eine der ältesten Städte Russlands, weniger als hundert Kilometer entfernt von der Grenze zu Estland, gelegen zwischen den Flüssen Pskowa und Velikaja.
Kathedralen und die hohe Kreml-Mauer
Was mir sofort auffiel: Unzählige Kathedralen prägen noch heute das Stadtbild und zeugen von dem tiefen Glauben der hier lebenden 200.000 Menschen. Pskow blickt auf eine lange und bewegte Geschichte zurück: Die hohen Mauern des Kremls - das ist eine Art Festung - wurden bereits im 8. Jahrhundert errichtet. Im Zweiten Weltkrieg wurde Pskow in den Jahren 1941-1944 von deutschen Truppen besetzt und fast vollständig zerstört.
Schließlich kamen wir am HPZ an. Wir wurden sehr herzlich von dem Schuldirektor sowie den Lehrkräften und dem Pflegepersonal begrüßt und sofort in den Tagesablauf eingebunden. Ich erfuhr, dass es heute neben der Schule zwei betreute Wohngruppen und eine Werkstatt für behinderte Erwachsene, bestehend aus einer Schreinerei, einer Näherei, einer Wäscherei, einer Gärtnerei, einem Bereich für die Herstellung von Verpackungsmaterial sowie einer Fördergruppe für Schwerstbehinderte, gibt. Diese Behindertenwerkstatt ist zurzeit die einzige ihrer Art in Russland. Anlässlich des 20-jährigen Bestehens wurde der Grundstein für den Bau eines Kindergartens und die Erweiterung der Schule gesetzt.
Eine Torte für Geburtstagskind Maksim
Die Kinder werden in vier Klassen unterrichtet: in der Unterstufe für Sieben- bis Neun-Jährige, in der Mittelstufe für Zehn- bis Zwölf-Jährige, in der Oberstufe für 13- bis 15-Jährige und in der Werkstufe für 16- bis18-Jährige. In jeder Klasse gibt es zwei Sonderschulpädagogen und zwei Erzieherinnen beziehungsweise Helfer. Um 8.30 Uhr bringen Busse die Kinder in die Schule.
Ich habe mich dafür entschieden, bei der zweiten Klasse mitzuhelfen. Zunächst helfe ich den Kindern beim Ausziehen ihrer Jacken: Nikita und Sascha etwa sind schwerstbehindert und blind. Sie sitzen im Rollstuhl. Maksim hat das Down-Syndrom und ist sehr kontaktfreudig sowie quirlig. Seine Mutter hat ihm eine Torte mitgegeben, weil er heute Geburtstag hat und neun Jahre alt wird. Kyrill ist ebenfalls neun und hat eine ausgeprägte Form von Autismus.
„Plötzlich begrüßt mich jemand auf Deutsch“
Ljonja und Vanja lachen sofort, als ich sie begrüße und ihnen die Hand gebe. Sie haben eine geistige Behinderung und sind gelähmt und sitzen meist im Rollstuhl. Kolja wirkt schon viel erwachsener als die anderen, kann aber nicht sprechen und gibt Laute von sich, die manchmal trotzig wirken und Unmut erkennen lassen. Die Lehrerin erklärt mir, dass Kolja in bestimmten Situationen sehr aggressiv reagiert und heute in einer schlechten Verfassung ist. Das einzige Mädchen in der Gruppe, Malischi, kann auch nur sehr undeutlich verschiedene Laute formulieren, scheint aber mehr zu verstehen. Insgesamt gehören zwölf Kinder in die Gruppe.
Ich freue mich, als mich jemand auf Deutsch begrüßt: Es ist Hannah aus Bad Kreuznach, die seit zwei Monaten zusammen mit Pia aus Wesel in Pskow ist und im HPZ ein Freiwilliges Soziales Jahr macht. Um 9 Uhr sitzen alle Kinder im Stuhlkreis. Die Kinder werden einzeln von der Lehrerin Anja begrüßt und gefragt, wie es ihnen geht. Dann erklärt Anja der Gruppe den geplanten Tagesablauf.
Morgengymnastik zu Musik
Dazu nimmt sie laminierte, auf der Rückseite mit Klettbändern versehene Bildkärtchen und heftet diese an die mit Teppichen beklebte Wand. Sie lässt verschiedene Kinder die Tagesprogrammpunkte wiederholen und verteilt verschiedene Aufgaben, wie etwa Tische abwischen oder Wäsche in die Wäscherei bringen. Malischi freut sich, die Karte für das Aufdecken hinter ihren Namen hängen zu dürfen. Nikita ist derweil eingeschlafen und Vanja wird vom Physiotherapeuten zur individuellen Physiotherapie abgeholt.
Als nächstes ist Morgengymnastik angesagt. Zu Musik bewegen die Kinder nach ihren Möglichkeiten im Stehen oder Sitzen Finger, Hände, Beine und Füße. Schließlich kommt auch noch der Logopäde und holt Kyrill zur Einzeltherapie ab. Nun wird Maksims Geburtstag gefeiert, das Licht wird ausgemacht und zwei Erzieherinnen tragen die Torte, die mit Kerzen bestückt ist, herein.
Maksim muss die Kerzen auspusten und darf anschließend aus einer Tüte Malstifte und ein Malbuch ziehen. Um 10 Uhr decken die Erzieher zusammen mit den Kindern den Tisch. Es gibt Quarkpuffer mit weißer Soße. Nach dem Frühstück bereiten wir die Tische zum Kneten vor. Der Jahreszeit entsprechend – es ist Herbst – sollen heute Weintrauben geknetet werden. Sascha und Nikita können nicht mitkneten, Sascha hört Musik, Nikita schläft weiter.
Borschtsch, Fleisch und Brote
Nach dem Kneten können sich die Kinder ein wenig für die nächste Aktion ausruhen, für den sogenannten Blättertanz in der Aula. Die Kinder, die im Rollstuhl sitzen, werden von den Helfern geschoben und gedreht.
Ich bin schließlich sehr hungrig, doch zum Glück gibt es jetzt das Mittagessen, welches in der schuleigenen Küche gekocht wird: Borschtsch – das ist eine Art Rote Beete-Eintopf –, Buchweizen mit Fleisch, Brot und Möhrensalat. Bald danach ist der Schultag zu Ende. Ich helfe dabei, den Kindern ihre Jacken anzuziehen, und dann werden die Kinder nach Hause gefahren.
In Pskow werden Grenzen überwunden
Zehn Tage lang habe ich die Schüler im HPZ besucht. Die Struktur des Tagesablaufes ist immer gleich, die Fächer variieren: An manchen Tagen wird zusammen eingekauft oder gekocht, manche Kinder werden in die Welt der Buchstaben und Zahlen eingeführt. Ich finde die Arbeit interessant und schön. Doch nach zehn Tagen Schule in Pskow freue ich mich, nach Hause zurückkehren zu können.
Ich nehme die Erinnerung an viele herzliche Begegnungen und die Erfahrung eines offenen, unkomplizierten Umgangs miteinander mit. Pskow ist für mich ein Beispiel für das Überwinden von Grenzen, von Grenzen zwischen Kulturen und von Grenzen zwischen Menschen mit verschiedenen Möglichkeiten.
Anna Carolin Hauke, Klasse 8a, Theodor-Fliedner-Gymnasium, Düsseldorf