Herne. .
Felix H.* stehen Schweißperlen auf der Stirn. Er sitzt in Raum 063 eines Gymnasiums im Ruhrgebiet und schreibt gerade seine Lateinklausur. Die Aufsicht führende Lehrerin steht auf und geht wachsam umher. Felix hält ein kleines Gerät fest in der Hand. Bis jetzt hat es die Lehrerin nicht bemerkt.
Drei Räume weiter geht die Tür auf: Natalie B.* verlässt den Raum mit strahlendem Gesicht. Diese Klausur dürfte jede Menge Punkte geben. In der Hosentasche steckt ihr „Minicomputer“. Wie bei Felix war dieses Smartphone vor wenigen Minuten noch im Einsatz. Es zeigte seiner Besitzerin die deutsche Übersetzung eines Ausschnittes aus der Aeneis – genauer gesagt des Ausschnittes, den zu übersetzen ihre Klausuraufgabe gewesen ist.
Mit dem Smartphone aus der Hosentasche schnell gegoogelt und abgeschrieben, so funktioniert ein moderner Spickzettel. Genau wie Felix und Natalie denken viele Schüler. Warum soll ich das ganze Zeug lernen, wenn ich doch bequem spicken kann? Das Smartphonespicken ist kein Einzelphänomen, das hat eine Umfrage am Otto-Hahn-Gymnasium in Herne gezeigt. Befragt wurden 45 Schüler der Oberstufe und 14 Lehrer.
Sich durch den Unterricht googeln
56 Prozent der Schüler besitzen ein Smartphone. Von diesen sind 71 Prozent aktive Smartphoneschummler. „Smartphonespicken ist für die Schüler ohne Smartphone unfair“, äußerte einer der Befragten. „Manche Schüler googeln sich durch den Unterricht. Das ist nicht nur in Klausuren nützlich, sondern kann auch die mündliche Mitarbeit ganz schön pushen.“
Felix und Natalie ist dieser Einwand ziemlich egal. Sie sind ehrgeizig und wollen im Leben etwas erreichen. „Schlechte Noten bedeuten einen schlechten Job und jetzt im Abi zählt jeder Punkt.“
Zurück im Klassenraum 063. Felix sitzt angespannt auf seinem Stuhl. Die Lehrerin ist fast bei ihm. Das Smartphone hat er in der einen Hand, mit der anderen schreibt er einige wirre Sätze. Jetzt ist die Aufsicht hinter ihm. Sie beugt sich über seine Schulter und liest, was er geschrieben hat. Als sie sich wieder aufrichtet, hält er den Atem an. „Zeig mir bitte, was du in der Hand hältst, Felix.“ Langsam öffnet er die Hand, das Smartphone glänzt. Die Lehrerin nimmt es und schaut auf die Website, die das Gerät anzeigt. „Gib mir bitte deine Klausur.“ Felix gehorcht mit zitternder Hand. Die Lehrerin geht mit seiner Klausur nach vorne. Felix schließt die Augen. Seine Gedanken rasen. Was nun? „Du kannst weiterarbeiten, diesmal ohne Handy.“ Die Lehrerin reicht ihm seine Klausur. Felix sieht auf die Übersetzung und seufzt. Die Hälfte der Zeit ist bereits um. Schweigend beginnt er zu übersetzen.
Vor ein paar Jahren war das Smartphonespicken noch nicht möglich. Damals musste man, wenn man spicken wollte, in Handarbeit möglichst viel und möglichst das Richtige auf kleine Zettelchen schreiben. Die Spickzettel wurden dann sorgfältig versteckt.
EIne Eins dank Smartphone
Die Lehrer von heute scheinen noch in der Spickerwelt von damals zu leben. Nur 35 Prozent der befragten Lehrer halten es für möglich, dass das Smartphonespicken auf dem Vormarsch sei. Ganz anders die Schüler. Von ihnen schätzen 53 Prozent der befragten den Stellenwert des Smartphoneschummelns als sehr hoch ein.
Felix hat bis zum Ende der Bearbeitungszeit übersetzt. Sein Gefühl: schlecht. Drei Wochen hat er dann auf das Ergebnis seiner Klausur gewartet. Jetzt, wo sie vor ihm liegt, kann er es kaum glauben: eine Drei minus, sieben Punkte. Aber das Schlimmste steht ihm noch bevor: ein Gespräch mit dem Stufenleiter wegen des Smartphoneschummelns. Die Konsequenzen seiner Schummelei stehen noch nicht fest.
Nathalie hat ihre Klausur auch zurück bekommen: eine Eins. Niemand hat Verdacht geschöpft. Natalie wird wieder spicken. Felix bestimmt nicht. Er ist glücklich mit dem blauen Auge, das er davon getragen hat. Smartphonespicken? Das kommt für ihn nicht mehr in die Tüte.
Selbstzweifel und Leistungsdruck
Doch was ist mit den anderen „Schummlern“, die ihr Abi mithilfe von Google bestehen? Felix schlägt vor, man solle die Übersetzungen durchs Internet jagen, mehr überprüfen und vor allem den Schülern das Lernen erleichtern.
Tatsächlich geben die meisten Schüler als Grund zum Spicken Selbstzweifel und Leistungsdruck an. G8 lässt grüßen. Vielleicht sollten Lehrer Schülern einfach zeigen, wie man richtig lernt, denn die meisten Schüler wissen nichts über Lernmethodik und wie Lernen eigentlich funktioniert. Dinge aus Google in Klausuren übernehmen hat jedenfalls wenig mit sinnvollem Lernen zu tun.
Aber was kann man den Lehrern von heute schon vorwerfen. Anscheinend, hat es auch in der Zeit des Herrn zu Guttenberg schon an methodischem (Fußnoten-)Wissen gefehlt.
*Namen geändert
Winnie Kleversaat, Klasse 8a, Otto-Hahn-Gymnasium, Herne