Essen. . Die Schülerin Meike Gerwin (16) verbringt ein Austauschjahr im russischen Novocheboksarsk. In ihrer neuen Schule trifft sie auf umarmungsfreudige Mitschüler und Mädels auf hochhackigen Schuhen, die Heidi Klum alle Ehre machen.

Meike Gerwin hat sich auf etwas eingelassen, das mancher als wahnsinnig betitelt : Ein Jahr in Russland leben. Und zwar ohne die eigene Familie oder Freunde. Im September ging es los.

Zunächst einmal gab es in Moskau ein einwöchiges Einführungsseminar, bei dem Schüler aus aller Welt aufeinander trafen, die sich eben alle für ein Auslandjahr in Russland entschieden haben. Irgendwann war es dann soweit. Jeder brach in eine andere Richtung auf. Für Meike ging es nach Novocheboksarsk, eine, für russische Verhältnisse, große Stadt, 650 km südöstlich der Hauptstadt Moskau an der Wolga. Dort lebt sie nun, voraussichtlich bis Juni 2012, geht zur Schule und tut alles, was zum Leben einer 16-Jährigen dazu gehört.

Meike, du hast dich für Russland entschieden, weil du seit der 8. Klasse in der Schule Russisch als 3. Fremdsprache gelernt hast. Inwieweit konntest du dich damit in den ersten Tagen schon verständigen?

In meinen ersten Tagen in Russland war ich im Camp, da war noch alles auf Englisch. Für die Verständigung mit meiner Gastfamilie und in der Schule ist es allerdings schon wichtig, weil die meisten Russen kaum Englisch oder Deutsch können und man auch nicht immer alles mit Pantomime erklären kann. Obwohl wir schon noch darauf zurückgreifen, weil meine Russischkenntnisse auch nicht mehr als Grundkenntnisse sind.

Was hast du in den „Vorbereitungscamps“ alles gemacht?

Wir hatten drei Vorbereitungscamps in Deutschland. Die ersten beiden waren allgemein zu Auslandsaufenthalten, bei denen wir über Regeln und Verhaltensweisen gesprochen haben und über Spiele gelernt haben, sich auf Neues einzulassen und nicht direkt zu urteilen. Das dritte war länderspezifisch, das heißt, dass dort alle aus Deutschland, die nach Russland wollen zusammengekommen sind.

Und was habt ihr gelernt?

Wir haben dort das gleiche gemacht, nur halt spezifisch auf Russland bezogen. Zudem haben wir eine Menge „Insiderinfos“ von „alten“ Austauschschülern bekommen. Hier im Arrival Camp waren dann alle Austauschschüler, (aus 17 Nationen) die jetzt in Russland sind. Wir hatten jeden Vormittag Russischunterricht und haben viel über Land, Leute, Kultur und Regeln unsere Organisation AFS gelernt. Außerdem gab es eine Menge Aktionen und Spiele um uns untereinander und natürlich die russische Kultur kennenzulernen.

Wie sieht dein Schulalltag aus und wie hast du den klassischen Schulstart am 1. September erlebt?

Der erste Schultag war schon beeindruckend. Das ist hier nämlich gar kein wirklicher Schultag, sondern ein Feiertag – der Tag des Wissens. Es gab also eine große Zeremonie vor dem Schulgebäude zur Eröffnung des Schuljahres mit Tanz, Gesang und vielen Reden, denen allerdings kaum jemand Aufmerksamkeit geschenkt hat. Dann ging es in die Klassen, wo es eine kurze (und sehr chaotische) Orientierung zu Stundenplan und Ähnlichem gab. Danach haben alle ihre Blumen der Klassenlehrerin überreicht und sind nach Hause gegangen.

Wie sieht dein Unterricht aus?

In der Schule habe ich jetzt jeden Tag drei Stunden Russisch: Zwei Stunden individuell mit meiner amerikanischen Freundin zusammen und eine in der dritten Klasse. Die Kinder da sind sehr lieb, lustig, interessiert und umarmungsfreudig. Dann habe ich noch verschiedene Fächer in verschiedenen Stufen, aber nie mehr als sechs Stunden an einem Tag.

Stimmt es, dass es eine Kleiderordnung an der Schule gibt?

An die Kleidung hab ich mich allerdings noch nicht wirklich gewöhnt. Es gibt zwar keine feste Uniform, aber man muss sehr förmlich (in schwarz-weiß, Jungen in Anzug, die Mädchen in weißer Bluse und Kleid/Rock/Hose) gekleidet sein, sonst stoppen einen die diensthabenden Schüler, die an jedem Gang „Wache halten“. Außerdem tragen fast alle älteren Mädchen Schuhe, die Heidi Klum neidisch machen würden, und ich frage mich immer, wie sie darauf überhaupt laufen können. Zumindest im Stehen die Balance zu halten, fällt der einen oder anderen zwischendurch sichtlich schwer.

Was machst du in deiner Freizeit?

Ich gehe hier (wie in Deutschland) einmal die Woche zur Musikschule zum Geigenunterricht. Sonst hab ich noch keine festen Hobbys, aber am Wochenende bin ich eigentlich immer in der nächstgrößeren Stadt mit den anderen Austauschschülern unterwegs.

Wie funktioniert der Kontakt zu deiner Familie und deinen Freunden? Hat dich schon mal das Heimweh richtig gepackt?

Der Kontakt nach Hause läuft über das Internet: Skype, Facebook und E-Mails. Richtig Heimweh hatte ich noch nicht, aber natürlich vermisse ich vieles.

Was kannst du da konkret nennen?

Vieles! Im Moment am meisten (Samstags-) Frühstück! Hier unterscheidet sich das kaum von Mittag- und Abendessen. Aber zum Beispiel auch den deutschen ÖPNV. Und dann einfach den Zustand, sich alleine und ohne Probleme zurechtzufinden, andere zu verstehen und verstanden zu werden.

Wie sah denn dein klassischer Samstagmorgen in Deutschland aus?

Ausschlafen und dann in aller Ruhe frische Schoko-Croissants und Brötchen mit Frischkäse und Erdbeermarmelade essen und mit meiner Familie quatschen.

Was hast du jetzt schon an deinem Gastland liebgewonnen?

Meine Gastfamilie auf jeden Fall. Und die Küche meiner Gastmutter: Борщ (Rote-Beete Suppe) , Щи (Kohlsuppe) , Пелмени (Gefüllte Teigtaschen), Пироги (Teigtaschen), Блины (Pfannkuchen) Сырники (Pfannkuchen aus Quarkteig) und jede Menge andere Leckereien, deren Namen ich vergessen habe.

Welche Erwartungen hattest du von der ersten Zeit und wurden diese erfüllt?

Schwer zu sagen, welche Erwartungen ich hatte. Ich hab mir ja jetzt kein festes Bild gemacht. Aber meine Familie erfüllt auf jeden Fall alles. Dann stimmt vieles mit dem überein, was uns vorher erzählt wurde, vieles aber eben auch nicht.

Aha, was ist das so?

Die Rollenverteilung ist nicht so klar. Uns wurde gesagt, dass die Frauen und Töchter ganz allein den Haushalt schmeißen, obwohl die Mütter doch auch arbeiten gehen. Mein Gastvater wäscht aber auch manchmal ab und kocht.

Hast du bereits an der Aktion „Ein Jahr in Russland“ gezweifelt?

Nicht am Auslandsjahr an sich, aber wenn ich die sonnigen Bilder meiner Freunde in Südamerika angucke oder meine Russischlehrerin mich auf neue Schwierigkeiten der russischen Sprache aufmerksam macht, was viel zu häufig der Fall ist, denke ich mir manchmal, dass ich mir das falsche Land ausgesucht habe. Aber es gibt vieles, was mich jeden Tag vom Gegenteil überzeugt!

Und das wäre?

Meine Sonnenscheingeschwister und meine beste Freundin hier: Paige aus den USA.

Was sind deine nächsten Ziele und Hoffnungen?

Erst mal komme ich durch das Jahr, in der Hoffnung, dass es wunderschön wird, und dann natürlich zurück zu euch. Dann möchte ich mein Abitur schaffen, ohne ein Schuljahr wiederholen zu müssen. Was danach mit mir wird, weiß nur Gott.

Zur Halbzeit wird es wieder ein Interview mit Meike geben. Mal sehen, was sich bis dahin alles getan hat. Aber erst einmal alles Gute für die nächsten Monate.

Melanie Schäfer, Essen