Witten. Selbst im November zieht er die Schlappen aus und steht stundenlang barfuß auf dem Pflaster. Warum dem Koranleser aus Witten das nichts ausmacht.
- Mit nackten Füßen steht er selbst im November vor dem Wittener Hauptbahnhof
- Angst vor einer Erkältung oder Schlimmerem hat er nicht
- Amer Ghanem liest täglich ungefähr 200 Seiten im Koran
Uns fröstelt ja schon bei dem Anblick. Obenrum trägt der Mann mit dem weißen Turban nur ein schulterfreies rotes T-Shirt, dazu eine weite helle Hose, die nicht mal bis zu den Füßen reicht, seine Schlappen hat er sich abgestreift. Stundenlang verharrt der Wittener Koranleser so an zentralen Plätzen der Stadt, wie zuletzt am Sonntag (10.11.) vor dem Hauptbahnhof. Holt man(n) sich da nichts in Nullkommanix weg?
Diesen Text haben wir erstmals im Januar 2024 veröffentlicht. Weil nun die kalte Jahreszeit angebrochen ist, haben wir ihn mit aktuellen Informationen und Bildern angereichert und uns dafür entscheiden, ihn erneut zu publizieren.
Die Liebe zu Gott lasse ihn nicht frieren
Amer Ghanem, wie der 2015 eingereiste Asylbewerber aus Syrien heißt, antwortet wie ein weiser Mann aus dem Morgenland. „Nein“, sagt er, gefragt, ob ihm nicht kalt sei. „Gott hat die Antwort für alles.“ Und früher gab er schon einmal zu Protokoll: Die Liebe zu Gott lasse ihn nicht frieren. Weiter will der Endvierziger nicht gestört werden und setzt die Lektüre des Korans fort.
Während sich alle um ihn herum in Winterjacken mummeln, bietet er das Alternativschauspiel. Achselhemd, entspannter Blick. Der Regenschirm schützt an feuchten Tagen nur sein selbst gebautes Lesetablett aus Stöcken und einem Lederriemen. Darauf liegt der Koran.
Aus Syrien nach Witten geflohen
Stören tut und will Amer Ghanem niemanden. Er erntet aber eine Menge Aufmerskamkeit, sowohl bei Fußgängern als auch Autofahrern. Denn sein Anblick auf Straßenkreuzungen wie am Ruhrdeich, mitten in den Fontänen auf dem Berliner Platz oder am Eingang zum Stadtpark ist ja nicht alltäglich - wobei man sich in Witten längst an ihn gewöhnt hat.
Trotzdem überrascht der gläubige Moslem einen immer wieder - so plötzlich scheint er auf einmal da zu sein. Über Stunden bewegt er sich kaum, ist völlig lautlos und wirkt wie entrückt, wenn er den Koran studiert. „Was ist so komisch daran“, fragt der Mann mit dem Bart. „Ich sitze und lese ein Buch.“ Und zwar im Auftrag Gottes: „Mein Gott bezahlt mich für meine Arbeit.“
Ein bisschen kommt der prominente Koranleser aber doch ins Plaudern. Er kam vor neun Jahren mit der großen Flüchtlingswelle nach Deutschland, erst nach Siegen, später nach Witten. Inzwischen lebe er in der städtischen Obdachlosenunterkunft am Mühlengraben. Seine langen Draußen-Aufenthalte scheinen auch Flucht vor den Mitbewohnern zu sein. „Es ist viel zu laut, die Leute, die Musik. Manchmal sind welche besoffen“, sagt er, in ziemlich gutem Deutsch.
Auch interessant:
- Hochwasser: Die aktuelle Lage in Witten
- Rückblick: Das war in Witten vor 50, 100 und 150 Jahren los
- Wittens Esels-Skulpturen: Enthauptet, repariert, zerstört
Dann mache er sich auf in die Stadt, um ein Brötchen zu kaufen und seinen Leseplatz zu suchen. Er steckt sich Stöpsel ins Ohr und legt los. Exakt 220 Seiten lese er pro Tag. Zum Vergleich: Seine Koran-Ausgabe habe insgesamt 600 Seiten. Alle drei Tage also das Gleiche erneut - kann er den Text denn nicht auswendig? Da lacht Amer Ghanem: „Ja, inzwischen schon.“
+++Keine Nachrichten aus Witten mehr verpassen: Hier geht’s zu unserem kostenlosen Newsletter+++
Seit Herbst 2021 ist der Koranleser im Wittener Stadtbild präsent. Anfangs trug der Syrer noch ein weißes Gewand, saß auch nachts, dick eingepackt auf einer Bank. So vielen gibt er Rätsel auf, aber wird er häufig angesprochen? „Viele gucken komisch, aber kaum jemand sagt etwas. Aber das ist mir egal. Ich sage anderen auch nicht, was falsch ist“, erklärt er. „Und was kann daran falsch sein, ein Buch zu lesen?“