Witten. Weint das eigene Kind am Telefon – oder ein Trickbetrüger? Immer öfter bekommen Senioren in Witten fragwürdige Anrufe. Eine 72-Jährige erzählt.

Der Polizei in Witten sind in den vergangenen Wochen wieder verstärkt Fälle gemeldet worden, in denen älterere Menschen gezielt telefonisch unter Druck gesetzt wurden. Stets ruft ein angebliches Familienmitglied in Not an. Nach Schilderungen von Betroffenen klingen der Anruf – insbesondere die Stimme – plausibel und täuschend echt. Meistens stecken Trickbetrüger dahinter.

Im Polizeibezirk Bochum, zu dem Witten zählt, ist die Zahl der „Delikte per Telefon“ während der Corona-Pandemie um ein Viertel gestiegen: Wurden 2019 von Januar bis Ende Oktober 1215 Fälle angezeigt, waren es in diesem Jahr schon 1658. „Der einfache Grund für den Anstieg ist, dass die Leute während der Pandemie mehr zuhause sind“ sagt Polizeisprecher Volker Schütte.

Zum Glück fielen die meisten Senioren nicht auf die Betrüger herein. In 96 Prozent der Fälle scheiterten die Anrufer mit ihrem Versuch, Bargeld zu erbeuten. Schütte glaubt aber, dass die Dunkelziffer hoch ist. „Viele Opfer melden sich nicht bei der Polizei, nachdem sie ihre Ersparnisse einer wildfremden Person anvertraut haben. Dafür schämen sie sich.“

Tochter der Frau aus Witten weint herzzerreißend am Telefon

Wie professionell die Täter handeln, schildert eine Wittenerin, die ihren Namen nicht nennen möchte. In der letzten Woche erhielten die 72-Jährige und ihr Mann einen solchen Anruf. Im Display ihres Telefon stand „Unbekannt“. Am anderen Ende glaubte sie, ihre weinende Tochter zu hören. Von Geräuschen überlagert, schluchzte diese: „Mama, ich brauche deine Hilfe.“



„Ich habe sie zwar akustisch schlecht verstanden. Aber man kennt doch das Timbre, mit dem das eigene Kind spricht“, sagt die Wittenerin hinterher. „Die Stimme kam genau hin.“

Falscher Polizist gibt an, Tochter säße in U-Haft

Der Hörer wurde weitergereicht an einen „Oberkommissar Bachmann“ von der Polizeidienststelle Gänsemarkt in Hamburg. Die Tochter wohnt dort tatsächlich. Der angebliche Kommissar berichtete: Die Tochter hätte während der Fahrt mit dem Handy telefoniert, ein Stoppschild überfahren und sei mit einem Radfahrer zusammengestoßen. Der 28-jährige Familienvater sei an der Unfallstelle verstorben. Nun bräuchte man Kontakt zu einem Anwalt. Denn die Tochter säße in U-Haft wegen Unfalls mit Todesfolge.


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Der falsche Polizist fragte die persönlichen Daten ab (Name, Adresse, Geburtsdatum) und forderte eine Schweigepflichtserklärung ein. Eine Viertelstunde lang folgte dann eine Rechtsbelehrung. „Ich war völlig geschockt“, schildert die Frau aus Witten die Situation. „Da gehen einem ja Gedanken durch den Kopf. Etwa: Wie kann man mit der Schuldfrage weiterleben?“

Der Vorschlag: 11.900 Euro überweisen

Hellhörig wurde sie schließlich doch, als der Kommissar ihr von einem „Passus im Gesetzbuch“ erzählte, nach dem die „Witwe“ des Radfahrers gegen eine Geldzahlung auf die Anzeigeformalitäten verzichten würde. Das Ehepaar sollte dazu 11.900 Euro online überweisen. Die Wittenerin beharrte darauf, zunächst mit ihrem Anwalt zu sprechen. Daraufhin wurde das Gespräch abgebrochen.


Bis dahin glaubte die 72-Jährige an die Geschichte. Erst der Familienanwalt enttarnte den Betrug. Und auch ihre Tochter konnten sie trotz einer Handynetzstörung erreichen – die saß nichtsahnend in Hamburg im Homeoffice. „Es war alles so plausibel“, sagt die Seniorin im Nachhinein.
Der Betrugsversuch sei erschreckend gut
gemacht gewesen.

Täter sitzen in Call-Centern im Ausland



„Die Telefon-Masche ist nicht neu. Aber mittlerweile ist das organisierte Kriminalität auf höchstem schauspielerischem und technischem Niveau“, sagt Polizeisprecher Volker Schütte. Die Täter rufen von
Call-Centern aus dem Ausland
aus an. Jeden Tag würde eine andere Stadt beackert. So werden bei der Polizeiwache Witten dann „zehn oder auch 60“ solcher Trickanrufe gemeldet, am nächsten Tag in Köln.


Die Täter suchen im Internet oder über das Telefonbuch nach Menschen mit älter klingenden Vornamen. „Man bemüht sich um ältere Leute.“ Denen werden dann hanebüchene Geschichten am Telefon aufgetischt. Da gebe es falsche Sparkassenmitarbeiter, so die Polizei,
jemanden, der einen Notstand vortäuscht
, einen anderen, der nach einem vorgetäuschten Unfall Bares braucht, oder eine angebliche Enkelin, die nach Geld für einen Wohnungskauf fragt.

Jens Artschwager, ebenfalls Polizeisprecher, beschreibt, warum die Masche dann oft doch klappt: „Die Opfer erkennen ihr Kind in einer Notlage und werden wie in eine Art Film gesogen. Sie funktionieren einfach nur noch.“


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