Neviges..
Seit Jahren schon wollen mich Freunde zum Klettern schleppen. Habe immer abgelehnt. Jetzt schickt mich mein Redakteur in den „Bochumer Bruch“. „Aber mach nix Gefährliches“, sagt er noch.
Das künstliche Tal am Wülfrather Ortseingang, wo der Panoramaradweg entlang führt, war mal ein Kalksteinbruch. Heute ist es ein Naturschutzgebiet. Und man kann dort klettern. Da kann ich nicht mehr ablehnen.
Mit mir sind Claudia, Uwe und Martin hier. Man ist schnell beim „Du“ an Fels und Seil, wo es ernst wird, steinschlag- und helmpflicht-ernst, sicherungsseil- und absturz-ernst. Rein kommt man nur mit Zahlencode. Wir laufen durch tiefen Wald. Martin Figge (42) erzählt, dieses Naturschutzgebiet werde von der Natur so gut angenommen, hier niste sogar ein Uhupärchen, jedes Jahr.
Bald sind wir in der „Muppet-Show“, hier gibt es die leichtesten Routen. Martin steigt vor, kaum gesichert, denn er muss das Seil erst nach oben bringen. Alle drei Meter hängt er einen Karabiner in ein Öse ein. Falls er abrutscht, fällt er ein Stück, bis das Seil ihn fängt. Und auch Claudia (28) muss zupacken. Sie hält am Boden das andere Ende. Martin ist flugs wieder unten. Dass der Fels feucht glänzt, hat ihn nicht beirrt. Das Seil ist nun oben.
Claudia verknotet mich mit dem unteren Ende. Ich bin jetzt dran. Doch ich finde keinen Einstieg, nur glatte Wand, winzige Absätze, meine klobigen Stiefel rutschen ab. Ich taste das Gestein nach etwas Greifbarem ab, um mich dran hochzuziehen. Erst nach drei Metern finde ich etwas. Ab hier wird es zerklüftet.
Diese Kletter-Route heißt übrigens „Schweine im Weltall“. Kletterkönig Martin findet sie einfach, gerade mal eine 3 auf der Skala bis 11. Martin, ehemals Bergsteiger, den sie „die Wade“ nennen, betreibt das Sportklettern intensiv. Klettern passiert, ihm zufolge, „vor allem im Kopf, es hat viel mit Nerven zu tun. Beim Joggen kann man die Gedanken spazieren lassen. Klettern zwingt einen, 100 Prozent bei der Sache zu sein.“
Wir sind inzwischen im nächsten Sektor, „Drei Zinnen.“ Die Zinne, die meine Begleiter wählen, ist eine dramatische Wand, gelb wie ein Canyon. Sie ist so steil, dass sie keinen Regen abbekommt. Eine 5. Sie heißt Clara.
Ich steige los. Lange Zeit denke ich an gar nichts. Dann aber – unter mir zehn Meter Abgrund – bleiben plötzlich die Griffe aus, Clara macht einen Buckel, hängt über. Ich denke: Wenn ich jetzt abrutsche, falle ich ins Leere.
Ich falle. Aber Claudia hat mich, und nichts passiert. Das meinen Kletterer mit Nervenstärke. Ruhig und klar denken, mit den Füßen nach sicherem Halt suchen. Beherrschung. Ich kann das noch nicht so gut. Die Beinmuskeln gespannt, stehe ich auf einem zu schmalen Vorsprung. Mein Gewicht halten die Finger. Mehr Hängen als Stehen. Und dann kommt die Nähmaschine. So nennt man das unkontrollierte Zittern im Bein, das auch nicht aufhört, wenn man lieb drum bittet.
Der Fels ist Freiheit. Kein Wegweiser schreibt einem vor, wo man als nächstes zu greifen hat. Aber Freiheit, für Menschen heißt das nicht Fliegen, sondern Hängen und Schwitzen und Bangen.
Wie Uwe (34). Neben mir hängt er am selben Buckel Claras. Uwe fürchtet sich, er spürt seine Kräfte schwinden und sieht keinen Ausweg, der sie schont. Die Seile, die uns halten, haben er und ich vergessen. Dann ist Clara zu Ende. „Wenn du jetzt rechts rüber steigst“, ruft Martin, „kannst du ein bisschen Aussicht genießen.“ Hinter der scharfen Kante gähnt der Abgrund und der Kletterer sieht ins Innere eines Kessels. Grüner Teppich, aus dem sich nackte Felswände erheben, menschengemacht, aber von der Natur längst zurückerobert. Auch Greifvögel soll man hier manchmal sehen können. Schade: Keine Hand frei, um ein Foto zu schießen.
Klettern passiert nicht nur im Kopf, skandieren meine ausgepowerten Glieder, während ich daheim sitze und dies schreibe. Sie haben sich gewerkschaftlich organisiert und fordern nun, Sport habe künftig nur noch horizontal stattzufinden: mit dem Fahrrad zum Bochumer Bruch zu fahren: ja; dort vertikale Wände zu erklimmen: nein.
Wir verhandeln noch. Denn der Kopf will noch mal.